In einer Zeit von Kriegen und geopolitischen Spannungen, Klimawandel und Umweltzerstörung, ideologischen Grabenkämpfe zwischen links und rechts, Hoffnungen und Schwierigkeiten künstlicher Intelligenz, mag es etwas absurd erscheinen, über etwas – zumindest global gesehen – Unbedeutendes wie die Bürden der Liebe zu schreiben.
Andererseits habe ich schon über Flecken an Bahnhofstreppen geschrieben, von da her: Let’s go! Wer über dreissig ist und noch (oder wieder) ledig, wird sich unweigerlich der Frage stellen müssen: Wie weiter? Klar, einige Menschen sehen darin keinen Unterschied zur Situation, wenn man erst Mitte zwanzig ist, aber ich stelle jetzt mal die These auf (und in diesem Blogpost werden viele Thesen aufgestellt ^^), dass sich vieles ändert, je älter man wird. Und ich spreche hier jetzt eher von zusätzlichen Beschwerlichkeiten. Während man anfangs zwanzig in der Regel noch keine Torschlusspanik hat und vieles ausprobieren kann oder sogar möchte (basically, das Gefühl, was einem Tinder & Co. zu vermitteln versuchen: Unbeschränkte Möglichkeiten), kann es sich zehn Jahre später anfühlen, als hätte man die falsche Abzweigung genommen und würde jetzt über eine Autobahn brettern, wo man nicht mehr umkehren kann, da es eine unüberwindbare Planke in der Mitte hat und man ja nicht als Geisterfahrer*in die ganze Strecke zurückfahren kann. Was ich häufig beobachte, ist, dass man im Alter über dreissig zwar viel mehr Wissen besitzt, was man möchte oder eben gerade nicht, aber auch viele schöne Charakterzüge verliert wie beispielsweise Idealismus oder Impulsivität, Naivität oder Neugier. Wem diese Eigenschaften also auch noch ein Jahrzehnt später wichtig sind, wird sich vermutlich fühlen wie zwischen Stühlen und Bänken. Gleichermassen zu alt wie zu jung. So geht es mir zumindest. Aber um das geht es hier alles gar nicht, sondern eher um die Reaktionen, wenn man ab einem gewissen Alter beziehungslos ist. Meistens kommen dann tröstende, hoffnungsvolle Worte wie «Du wirst die richtige Person schon noch finden, da bin ich mir sicher!» oder «Es gibt viele Fische im Meer!» (Wobei ich da anmerken muss, dass in meinem vegan[freundlich]en Umfeld dieser Spruch weniger häufig fällt – zumal es mittlerweile kein Geheimnis mehr sein sollte, dass die Meere massiv überfischt sind, weshalb diese Analogie hinfällig wird.) Ich frage mich dann in solchen Situationen jeweils, ob die Leute das wirklich glauben oder mit dieser Floskel einfach versuchen, in einer sozial unangenehmen Situation irgendetwas Aufbauendes zu sagen. Deshalb werden wir heute mal versuchen rauszufinden, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sein könnte, die «richtige Person» in der Liebe zu finden. (Noch eine kurze, erfrischende Anekdote, bevor wir loslegen: Ein Kumpel von mir, der Mitte vierzig ist, hat mir kürzlich offenbart, dass er nicht mehr daran glaube, seine Seelenverwandte zu finden [«zumindest nicht mehr in diesem Leben»], und dass es ja aber noch viele andere schöne Dinge im Leben gebe… So sieht dann vermutlich ein zufriedener Realismus fernab von unreflektiertem Zwangsoptimismus aus.) An dieser Stelle muss man natürlich zuerst festhalten, dass nicht alle Menschen den gleichen Struggle mit der Liebe haben, weil man beispielsweise weniger Erwartungen an die Partner*in hat (ich habe Menschen kennengelernt, denen es – etwas salopp gesagt – gereicht hat, wenn man in der gleichen Freikirche war oder die gleiche Leidenschaft teilt), weil man der Liebe allgemein einen weniger hohen Stellenwert beimisst (also nicht auf der Suche ist nach einer seelenverwandten Person für das ganze Leben) oder weil man – und jetzt wird es etwas heikel – einfacher kompatibel ist. Wenn jemand zum Beispiel durchschnittlich gut aussieht, einen durchschnittlichen Lohn hat, einen konventionellen Lebensentwurf hat (wie mir das damals die UBS-Mitarbeiterin schmackhaft machen wollte), in seiner Freizeit gerne in Restaurants, Bars oder ins Gym geht und abends Netflix schaut, dann lässt sich vermutlich einfacher ein passendes Gegenstück für diese Person finden als wenn man ein autistischer Musiker ist, der sich nebenbei ausschliesslich für Ornithologie und Sauerteigbrote interessiert. Kurz und vereinfacht gesagt: Je konventioneller und durchschnittlicher, desto einfacher die Partner*inwahl. Oder mit einer weiteren für die Liebe typischen Analogie: Für einen Ikea-Topf lässt sich leicht einen Ikea-Deckel finden. (Bitte nicht zu ernst nehmen und beleidigt sein; ein Text wie dieser lebt von Humor und Übertreibung! ;)) Wie sieht die Situation jedoch aus, wenn man sich eher wie ein oval-geformter Wok aus einem nachhaltigen Fachgeschäft mit lauter Unikaten fühlt? Wie findet man einen Deckel, wenn der eine alte, passende Deckel auf den Boden fiel und in hundert Teile zersplittert ist? Legen wir doch mal mit dem ersten Ausschlusskriterium los: Als heterosexueller Mann habe ich zwar mehr Kandidatinnen als wenn ich beispielsweise homosexuell wäre (auch hier: lediglich ein statistischer Fakt, keine Wertung) und dennoch fällt die Hälfte der Bevölkerung mal weg. Damit hätten wir noch 4 Milliarden Menschen weltweit (the curse of too many options…). Da wir aber realistisch sein wollen und ich gelernt habe, dass Fernbeziehungen vielleicht anfangs zwanzig noch reizvoll wirken können, jedoch kaum praktikabel und beständig sind, rechnen wir einfach mal mit der Deutschschweiz. Dann gäbe es immerhin noch einen Pool von 3.5 Millionen Frauen, wobei 2.5 Millionen vermutlich realistischer wäre, da beispielsweise Interlaken und St. Gallen eine Zugfahrt von drei Stunden trennen und deshalb die Deutschschweiz noch etwas eingegrenzt werden müsste. (Hier ebenfalls ein kleiner Disclaimer [weil ich weiss, dass einige wenige Leute jedes Wort umdrehen und darin vermeintliche politische Inkorrektheit sehen wollen]: Worte wie ‘Pool’, ‘Auswahl’ oder ‘Optionen’ sollen nicht entwertend wirken, sondern einfach neutral gelesen werden mit dem Zweck einer abwechslungsreichen Sprache.) Nun geht es um die entsprechende Altersgruppe: Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen, dass zu grosse Altersunterschiede in der Regel scheitern (vermutlich sind zehn Jahre ü40 nicht mehr so relevant, aber u30 sehr wohl), von da her wählen wir eine Spanne von zehn Jahren aus (+/- fünf Jahre). Übrigens kommen Studien zu ähnlichen Resultaten. Nachdem ich also die Grafik zum Altersaufbau des Bundes studiert habe, kann man vereinfacht sagen sagen, dass wahrscheinlich ungefähr ein Achtel der Bevölkerung in meinem Fall in Frage käme. Das wären dann noch 312'500 Personen. Nun gibt es ja aber noch individuelle Präferenzen und nicht bloss geografische oder demografische Einschränkungen. Als Veganer hast du diesbezüglich schon mal die Arschkarte gezogen (zumindest noch; just wait for veganism to rise… #LOL #Dreamer), denn vermutlich leben weniger als ein Prozent in der Schweiz vegan – auch wenn es Umfragen mit unrealistisch-positiven Resultaten gibt. Würden wir vegan-freundliche Personen (z.B. Vegis und Flexitarier*innen mit mehrheitlich pflanzenbasierter Kost) inkludieren, kämen wir vielleicht auf 5%. So blieben noch 15'625 potenzielle Kandidatinnen in meinem Fall übrig, was doch immer noch viel mehr ist, als wenn man vor hundert Jahren in einem Dorf aufgewachsen wäre. Nun ist die Chance natürlich höher, dass ein vegan lebender Mensch die gleichen (tier)ethischen, ökologischen und sozialen Werte teilt; gleichwohl gibt es auch Veganer*innen, die jährlich um die Welt jetten, regelmässig auf Zalando, Shein und Co. Fast Fashion bestellen oder rechtsbürgerliche Parteien wählen, was dann halt auch eher suboptimal ist... Rechnen wir deshalb mal optimistisch mit 11'500 Menschen. Intelligenz ist für mich auch ein wichtiges Thema und zwar nicht aus einem elitärem Standpunkt heraus, sondern weil es unglaublich frustrierend sein kann, wenn man das Gefühl hat, das Gegenüber kann einem kognitiv nicht folgen (oder umgekehrt). Und sich verstanden fühlen, ist ein ziemlich wichtiges Merkmal einer Beziehung. Also 10'000 Personen. Nun muss man sich optisch ja auch noch ansprechend finden und da gebe ich zu, dass ich sicher auch ein wenig oberflächlich bin. Andererseits ist das ja auch erwiesen, sonst wären alle Dating-Apps aufgebaut wie OKCupid und nicht wie Tinder, wobei natürlich auch bei OKCupid der erste optische Eindruck sehr präsent ist. (Mein Blogpost ‘Tinder Activism’ findet ihr übrigens HIER. Mein Youtube-Video ‘Das Problem mit Tinder, Bumble & Co.’ gibt es HIER.) Wenn wir uns also überlegen, wie viele Menschen uns optisch wirklich richtig gut gefallen (immerhin geht es hier – etwas pathetisch gesagt – um die Liebe des Lebens und nicht bloss um einen feuchtfröhlichen Fasnachtsflirt), dann handelt es sich dabei vermutlich um allerhöchstens jede vierte Person. Dann wären wir - sehr optimistisch gerechnet - bei 2500 potenziellen Freundinnen. Nun gibt es natürlich auch noch nicht-fass- oder messbare Kriterien, also beispielsweise ob die Chemie stimmt. Das ist zwar sehr unwissenschaftlich, aber andererseits gibt es auch Studien zu Gerüchen und Anziehung und ausserdem können wir ein Thema wie Liebe sowieso nicht rein wissenschaftlich analysieren. Wir streichen deshalb nochmals einen Teil der Kandidatinnen, weil ich gewisse Personen nicht «riechen» kann und kommen schliesslich auf exakt 1758 Personen. (Wenn wir schon mal unwissenschaftlich unterwegs sind… xD) Ebenfalls gibt es noch weitere individuelle Eigenschaften, die mir wichtig sind und bisher noch nicht benannt wurden. So hat Musik, Melancholie, Kreativität, künstlerischer Ausdruck oder Aktivismus einen hohen Stellenwert in meinem Leben. Eine andere Person interessiert sich vielleicht eher für sportliche Outdoor-Aktivitäten oder lebt mehrheitlich in einer virtuellen Welt zwischen Videogames und Twitch... Man muss zwar nicht alle Hobbies teilen, aber für mich ist ein gewisses Grundverständnis zumindest in meinem Fall schon relevant. Ausserdem darf man die Frage nach der Familienplanung (ich bin da glücklicherweise recht flexibel, auch wenn meine Tendenz mittlerweile schon Richtung ‘klein Aebi’ geht ^^) sowie der Religionszugehörigkeit (da bin ich nur noch ‘minimal flexibel’, irgendwo zwischen Atheismus und Agnostizismus…) oder politische Präferenzen (wie oben bereits erwähnt) nicht vergessen, was schon bei einigen Paaren zu Krisen oder Beziehungsenden geführt hat - genauso wie die ebenso fundamentale Frage, ob man Koriander mag oder nicht. Runden wir also ab auf ungefähr 1000 Menschen. Das ist also die Zahl möglicher Kandidatinnen für mich. Nicht schlecht, oder? Könnte man denken. Denn wir haben zwei Dinge noch nicht in die Rechnung mit einbezogen. Erstens: Die meisten Frauen und Männer in meiner Altersgruppe sind bereits in Beziehungen. Wenn wir Statistiken dazu anschauen und ich es mit der Erfahrung von mir und meinen Kolleg*innen abgleiche, dann können wir davon ausgehen, dass vermutlich rund 80% vergeben sind. Dann wären wir noch bei 200. Zweitens: Selbst wenn die Person für mich unglaublich gut passen würde und für mich alles stimmen würde (mein ‘perfekter’ Match sozusagen), muss ja das gegenüber ebenso empfinden. Jep, in meiner Berechnung bin ich bisher bewusst nur von mir ausgegangen. Dass das Gegenüber aber auch dieses Gefühl von Seelenverwandschaft verspüren muss, macht alles nochmals massiv unwahrscheinlicher. Wir landen also vielleicht so bei 20 Personen. Zwei davon bin ich schon begegnet in meinem Leben (wofür ich übrigens sehr dankbar bin; auch wenn die Beziehung letztendlich weniger stark war als meine Liebe), also sagen wir 18. Das ist folglich meine abschliessende Zahl. 18. Ich würde sagen, das klingt irgendwie realistisch; nicht ganz hoffnungslos, aber gleichzeitig eben schon auch sehr unwahrscheinlich – immerhin muss man einer dieser Personen fürs Leben ja zuerst noch über den Weg laufen und dann irgendwie in Kontakt treten (falls DU eine der Personen bist und gerade über diesen Text gestolpert bist, please leave a comment ;)). Wer diesbezüglich auf ein göttliches Schicksal, eine spirituelle Fügung oder sonst ein Wunder vertraut: Good for you! Ich kann leider nur an 80% Zufall und 20% Arbeit (zielgerichtete, aktive Suche) glauben. Obwohl ich zumindest den Glauben an die Magie der Liebe nie verlieren werde. Aber eben auch nicht jenen an die harten Fakten der Vernunft. Von da her bin ich gespannt, ob ich - ähnlich wie mein Kumpel oben - in zehn Jahren ebenfalls eine*r Kolleg*in in meinem jetzigen Alter sagen werde, dass ich nicht mehr daran glauben würde, die Person fürs Leben in diesem Leben noch zu finden… Oder ob ich dann mit einem Grinsen sagen würde: 18. Die Antwort ist 18.
2 Comments
Es gab eine Zeit, da haute ich bis zu vier Blogposts pro Monat raus. Ich sprudelte vor Tatendrang und Ideenvielfalt. Es war, als hätte mich eine Muse geküsst, so leicht liess sich damals alles schreiben.
Aber jede Muse verschwindet irgendwann mal und dann stellt sich die Frage: Wie weiter? Viele geben auf, andere krampfen weiter. Ich habe zuerst reduziert und trotz fehlender Leichtigkeit weiter geackert. Aufgegeben habe ich allerdings nie, sondern bloss meine Kreativität in andere Bereiche transformiert. Strassenaktivismus, politische Vorstösse, Video Content statt Texte oder Musik. Das hat freilich nicht nur mit meiner fehlenden intrinsischen Motivation zu tun, sondern einerseits mit beruflichen oder sozialen Verpflichtungen, andererseits aber auch mit der Gesellschaft und wie (m)ein soziales Umfeld auf gewisse Dinge reagiert. Blogposts sind nicht mehr so trendy wie noch vor 8 Jahren, als ich angefangen habe, Texte in meinem Blog zu veröffentlichen. Und da ich das Gefühl hatte, mit Videos mehr Leute zu erreichen, wechselte ich den Kanal und schrieb nur noch sekundär Texte. Aber auch Youtube ist in der Krise; nicht Youtube an und für sich, aber zumindest was aktivistischen Content anbelangt (im Gegensatz zu der Vielzahl unsäglicher Reaction-Videos). Und die Klimastreik-Bewegung ist zwar nicht tot, aber definitiv ihres Schwungs beraubt. Genauso – oder noch schlimmer – steht es um den Tierrechtsaktivismus, insbesondere wenn wir den Outreach auf den Strassen betrachten. Früher gab es regelmässig Events mit 30-40 Personen. Auch in guter Erinnerung bleibt mir der Swiss Unity Cube im tiefsten, kalten Winter in Zürich, wo sich über 100 Personen einen Nachmittag lang für Tierrechte einsetzten. Auch wenn ich dabei vermutlich wie ein Boomer klinge, aber: Diese Zeiten sind vorbei. Aus diesem Grund beschloss ich vor ein paar Wochen, die jährliche Mitgliedschaft bei Weebly zu kündigen – immerhin zahlte ich jährlich um die 120.- für die Dienste einer Webseite, die ich nicht mehr wirklich nutzte. Und so wurde aus saoiaebi.com wieder saoiaebi.weebly.com. Übrigens habe ich die Thematik schon mal im Blogpost «Alles beim Alten» aufgegriffen. Doch das Downgrade ist mit mehr Problemen verbunden als das Upgrade. Beim Upgrade wurden nämlich damals alle Links mit der Adresse saoiaebi.weebly.com direkt auf saoiaebi.com umgeleitet. Beim Downgrade ist dies nicht der Fall. Konkret heisst das: Alle Links im Internet führen jetzt ins Nichts, auf eine Webseite, die nicht mehr ist. Welcome to digital limbo! So musste ich in den vergangenen Wochen einige Zeit aufwenden, um zumindest alle Website-internen Links von saoiaebi.com zu saoiaebi.weebly.com umzubenennen. Zum Glück gibt es einige spannende Videos oder Podcasts da draussen, damit ich mir das mühsame ‘Grinding’ etwas angenehmer gestalten konnte. (Fun Fact: Vor ca. 4 Jahren habe ich mir tatsächlich überlegt, ob ich nicht allenfalls doch einen Podcast starten sollte, wo jede Episode ein Wort tragen sollte und ich dann mit immer einem anderen Gast über alle Aspekte und Facetten dieses Themas diskutieren sollte.) Nun ist also saoiaebi.com erloschen und ich befinde mich sozusagen wieder am Anfang; dort wo alles begonnen hat. Zurück zum Ursprung eben. Auch wenn vieles nicht mehr so ist, wie es einst war… Wann warst du das letzte Mal ungeduldig?
Und weshalb? Beim Warten auf den Zug? Auf eine verabredete Person? Auf die neue Staffel einer Serie? Ich muss sagen, ich bin ein ziemlich ungeduldiger Mensch; vermutlich auch weil ich meistens genau weiss, wann, wie und weshalb ich eine Sache möchte und dann fühlt sich das Warten darauf irgendwie ineffizient an (auch wenn das Gefühl vermutlich eher auf einen kindlichen Trieb zurückzuführen ist und weniger auf eine rationale Überlegung zu Produktivitätssteigerung und Effizienz). Die Ungeduld ist nicht per se ein Problem. Wenn man dadurch tätig wird und aktiv eine Veränderung anstreben möchte, kann sie auch ein wichtiger Antrieb im eigenen Verhalten sein. Dennoch: Es gibt einen Grund, wieso die Ungeduld in der Liste der Laster aufgeführt wird und nicht in jener der Tugenden. Wie viel Schaden die möglichst rasche Erfüllung der Wünsche tatsächlich verursacht, ist zwar häufig nicht so recht ersichtlich, aber ein fahler Nachgeschmack bleibt (bei mir) jedenfalls trotzdem, wenn ich daran denke, wie sehr die Ungeduld in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat. Ein Beispiel gefällig? Als ich in Berlin war, stiess ich in einer U-Bahn-Station auf ein riesiges Plakat, das eine ziemlich mutige Ansage machte: Dein Einkauf wird bequem nach Hause geliefert – und zwar in 15 Minuten. Wie soll so etwas möglich sein? Klar, je nach Aufbau des Lagers und der logistischen Technologie kann man vermutlich sehr rasch einen Einkaufszettel via Fliessbänder in den Einkaufskorb bringen. Doch selbst nach der Zusammenstellung der Produkte, welche vielleicht trotzdem wenige Minuten benötigt, kommt ja noch die effektive Auslieferungszeit dazu, welche in einem grossen, urbanen Gebiet wie Berlin ja auch viel Zeit kostet. (Man denke nur mal daran, wie lange es geht, um mit der U-Bahn vom Prenzlauer Berg nach Neukölln zu fahren…) Mittlerweile ist das Konzept vom möglichst bequemen und vor allem schnellen Einkaufen auch in der Schweiz angekommen: In Basel sind seit mehreren Wochen fast identische Werbeplakate zu sehen (siehe Blogpost-Foto): "Wir liefern deine Lebensmittel innert 15 Minuten." Die Frage stellt sich nun also: Wo entsteht denn eigentlich der Schaden bei einer solchen ultraschnellen Auslieferung? Was ist der Preis von «schnell»? Als ich vor gut einem Jahr den Blogpost «Der Preis von Billig» veröffentlicht hatte, waren die Probleme offensichtlich: Kostensenkung resultiert leider meistens in menschlicher, tierischer oder ökologischer Ausbeutung. Beim Marker «Geschwindigkeit» ist jedoch eine mögliche negative Folge weniger gut ersichtlich. Gleichwohl finden wir auch in diesem Bereich andere Beispiele mit Schattenseiten: Auf der Autobahn kann beispielsweise eine Temporeduktion aus ökologischer Sicht durchaus Sinn machen. Je schneller man mit dem Auto über den Asphalt brettert, desto höher ist der Energieverbrauch. Auch bei der Waschmaschine gilt die Formel «Je schneller, desto klimabelastender»: Wer seine Wäsche im Kurzwaschprogramm wäscht, verbraucht mehr Energie. Ob dieses Problem auch auf die 15-Minuten-Lieferung zutrifft, kann ich nicht abschliessend beurteilen, weil man nur wenig über Auslieferungsart, Lebensmittellagerung, Arbeitsbedingungen (Zeitdruck der Arbeitnehmer*innen) usw. von solchen Anbietern erfährt. Mein Hauptproblem ist jedoch ein anderes und eher philosophischer Natur. Und da wären wir wieder bei der in der Einleitung angesprochenen Ungeduld. Ich bin der (subjektiven) Meinung, dass die möglichst rasche Erfüllung von Bedürfnissen und Wünschen aus soziologischer Sicht problematisch ist. Wir haben in den letzten Jahrzehnten immer mehr verlernt, auf etwas zu warten und diese Wartezeit auch auszuhalten. Der Zug hat drei Minuten Verspätung? Aufregen oder halt nochmals aufs Smartphone glotzen. Die neue Netflix-Staffel kommt erst nächstes Jahr? Dann halt was anderes bingewatchen. Der Spielfilm hat eine ereignisarme Szene? Ein paar Minuten nach vorne skippen oder in der Zwischenzeit Social Media checken, bis wieder Action abgeht. Die Liebe des Lebens ist gerade nicht präsent? Auf Tinder rasch durch Tausende Profile swipen… Dass die Zeitspanne zwischen Bedürfnis und deren Befriedigung immer stärker reduziert wurde, ist allerdings nicht nur auf unsere Ungeduld zurückzuführen, sondern einerseits logischerweise auch eine Folge von effizienterer Technologie, aber andererseits eben auch eine bewusste Entscheidung von (kapitalistischen) Unternehmen, die uns so als Konsument*innen noch besser konditionieren können. Letztendlich werden wir durch diese Entwicklung nämlich wieder stärker zu Kindern, die sich nicht gedulden wollen und jetzt sofort ihre neuen (überteuerten) Sneakers brauchen (vielleicht sind diese eine paar Wochen später schon wieder nicht mehr «in» und dann erhält der Instapost nur noch halb so viele Likes). Wir machen uns also auch angreifbar, wenn wir uns konditionieren lassen wie ein Haustier und dadurch das Aushalten und Kontrollieren unserer Bedürfnisse nicht mehr trainieren – oder je nachdem gar nie erlernen (ich denke mitfühlend an die kommenden Generationen). Was diese gesellschaftliche Tendenz letztendlich auch bedeutet: Wir müssen vermehrt auf entschleunigende Tätigkeiten wie Meditation oder Achtsamkeitstraining zurückgreifen, um dem hohen Tempo des 21. Jahrhunderts etwas entgegenhalten zu können. Dass dies die Ursachen nicht wirklich bekämpft, sondern bloss einem Schmerzmittel für den Knochenbruch gleichkommt, liegt auf der Hand. Triebverzicht sei die Wiege der Kultur, meinte einst Sigmund Freud, der freilich auch viel Fragwürdiges von sich gegeben hatte. Und dennoch: Ohne die Zeit des Wartens und vielleicht sogar der Langeweile hätten wir heute viel Künstlerisches, Kulturelles oder Philosophisches nicht. Reflektieren und entscheiden braucht Zeit – auch was den Konsum anbelangt. Letztendlich geht es aber auch noch um etwas Anderes: Ist ein Spaziergang durch die Gemüseabteilung oder entlang der immer grösser werdenden Fleischersatz-Theke nicht auch eine Art synästhetisches Erlebnis? Kann das Abfüllen der Müesli-Mischung in ein mitgebrachtes Einmachglas im Unverpackt-Laden nicht auch ein lustvoller, entspannender Moment sein? Und verpassen wir durch die 15-Minuten-Express-Auslieferung nicht die vielleicht schönste aller Freuden, die Vorfreude? |
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