Vor einiger Zeit wurde ich mal im Lehrer*innenzimmer gefragt, ob ich wüsste, wie hoch der ökologische Nutzen wäre, wenn alle Schüler*innen statt zahlreicher Papier-Kopien iPads oder Laptops verwenden würden, also wenn man konsequent auf digitalen Unterricht setzen würde. Mein Gehirn fing sogleich an, sich zu überlegen, wie viel Papier denn ungefähr pro Schuljahr je Fach benötigt wird und woher das Holz, aus welchem das Papier gemacht wurde, denn stammen könnte. Ist es nachhaltig geholzt worden? In der Schweiz? Oder wird dadurch halb-legales Waldroden in osteuropäischen (Ur)Wäldern unterstützt? Wie viel Energie braucht die Produktion von Papier überhaupt? Wie viel der Transport zu uns? Und wie steht es eigentlich um die Herstellung von iPads/Laptops? Wie lange ist deren Lebensdauer? Mit welcher Art von Strom werden die Geräte aufgeladen? Kohle? Atomenergie? Sonne, Wasser, Wind? … Nachdem mir diese Fragen (mitsamt einigen Überlegungen) in kürzester Zeit durch den Kopf geschossen sind, antwortete ich meinem Lehrerkollegen Folgendes: «Ich weiss es nicht.» Es ist ein so einfacher, ehrlicher Satz. Trotzdem wird er seltsamerweise selten ausgesprochen. Wir leben in einer Zeit, in der wir Zugang zu unglaublich viel Wissen besitzen. Ganz viele Antworten warten nur darauf, abgerufen zu werden: Was ist die 10. Stelle nach dem Komma hinter der Kreiszahl Pi? Innert weniger Sekunden finden wir die Antwort (es wäre ‘5’, aber ja… who cares, anyway?!) und können auf der Wikipedia-Seite (jetzt tut nicht so, als ob das nicht auch eure erste Anlaufstelle wäre...) gleich noch etwas über das ‘Basler Problem’ erfahren (nein, es handelt sich dabei nicht um eine Anspielung auf den rechtsextremen Grossrat Eric Weber, sondern um die Frage nach der Summe der reziproken Quadratzahlen… oder so…). Aber nicht nur deshalb erwarten wir von unseren Mitmenschen einen gigantischen Pool an Allgemein- und Fachwissen: Wir leben auch in einer Zeit, in welcher wir einerseits dank Social Media Vieles behaupten können, ohne dass dies von tatsächlichen Expert*innen kontrolliert und verifiziert wurde (die Covid-Impfung führte zum Herzstillstand des dänischen EM2020-Fussballspielers Christian Eriksen… Tatsächlich korrekt? Egal, einfach mal teilen…). Andererseits fördern Facebook usw. auch eine Radikalisierung und Polarisierung der sozialen Gruppen durch «Echo Chambers» respektive «Filter Bubbles». Hätte die USA, die UNO und andere involvierte Länder in Afghanistan bleiben sollen/müssen? Oder gar nicht erst dort auftauchen, auch wenn sich dort soziale Unruhen anbahnten? Ich weiss es nicht… Was früher in der Schulzeit belastend war, kann im Erwachsenenleben nahezu beruhigend sein: Denn während wir früher das Gefühl hatten, die Lehrperson würde eine solche (Nicht)Antwort mit einem fiesen Kommentar bestrafen und die ganze Klasse wüsste ausserdem sicher die richtige Antwort; so wissen wir mittlerweile, dass viele Mitmenschen eigentlich selber keinen Plan haben (oder nur einen halben) und man in einer gespaltenen Gesellschaft mit neutralen Aussagen sowieso wenig Angriffsfläche bietet (mit einer Aussage wie «Es wäre ökologisch von Vorteil, etwas weniger Fleisch aus Massentierhaltung zu essen» eckt heute niemand mehr richtig an). Ausserdem hat das «Ich weiss es nicht» als Jugendliche*r auch viel mit fehlendem Selbstbewusstsein zu tun – immerhin wissen Schüler*innen nach wiederholten Nachfragen oftmals trotzdem die Antwort; manchmal sind sie einfach etwas unsicher. Ein heutiges «Ich weiss es nicht» ist in der Regel eher ein mutiges Bekenntnis zur Begrenztheit des Wissens, also ganz im Sinne von Sokrates bedeutungsschweren Satz «Ich weiss, dass ich nichts weiss». Ist es möglich, in einer langfristigen Beziehung bis ans Lebensende wirklich glücklich zu sein - insbesondere im 21. Jahrhundert als junges Paar? Ich weiss es nicht… Wie soll man denn auch in einer Zeit, in welcher wir global unglaublich vernetzt sind und zwischen hunderttausenden, unterschiedlichen Aktivitäten, Serien, Newsportalen etc. pp. alles wissen können? Die einen kennen alle Plots der aktuellsten Netflix-Serien; die anderen den Marktwert jedes einzelnen PSG-Spielers; einige kennen die essentiellsten Alben und Musiker der Cool-Jazz-Epoche; und wiederum weitere erkennen europäische Vogelarten an ihrem Gesang, In der Schulzeit war immerhin der Unterrichtsstoff limitiert. Als erwachsenes Individuum ist er nahezu unendlich. Was passiert, wenn man im Weltall in ein schwarzes Loch fallen würde? Ich weiss es nicht… Natürlich könnte man jetzt auch noch die philosophische Frage diskutieren, was denn «Wissen» überhaupt bedeutet und ob wir selbst durch Erkenntnisse, welche in klar wissenschaftsbasierten, sorgfältig ausgeführten Metastudien gewonnen wurden (z.B. dass der Klimawandel und die Umweltzerstörung grösstenteils menschengemacht ist), überhaupt etwas über Wissen und «objektive Wahrheit» aussagen können.
Muss aber nicht unbedingt sein. Denn der Zweck dieses Posts war ein anderer: Mut zum Nicht-Wissen. Statt immer irgendwelches Halbwissen weiterzutragen, einfach mal «Ich weiss es nicht» sagen. Im Ernst, probiert es mal aus, wenn ihr das nächste Mal in eine Diskussion gelangt. Ihr werdet sehen, dass die Dynamik eines Gesprächs sich stark verändern wird, sobald man diese magischen Worte ausgesprochen hat, und man sich womöglich dann auch wieder mehr zuhört, anstatt das Gegenüber bloss von seiner eigenen Meinung überzeugen zu wollen. Also vielleicht jedenfalls. Vielleicht auch nicht. Es kann auch sein, dass man dann als unwissender Narr die Debatte verlässt. Ich weiss es nicht…
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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