Kennt ihr das, wenn ihr in eine Situation gerät, in welcher ihr schon lange nicht mehr wart, aber früher häufig verkehrt habt? Ein gutes Beispiel dafür sind Klassentreffen, von welchen ich ehrlich gesagt bisher nur zwei erlebt habe, aber der Outcome jeweils derselbe war: Ich verhielt mich wie damals, als ich selber noch zur Sekundarschule respektive ins Gymnasium ging. Das Spannende daran ist allerdings, dass ich bei beiden Klassentreffen (logischerweise) kein nerviger Pubertierender mit rechtsbürgerlichen Tendenzen mehr war, der sich nur für Fussball, Videospiele und Mädchen interessierte. Nein, mittlerweile bin ich Mannschaftssportarten eher skeptisch eingestellt; finde Videospiele zwar aus nostalgischen Gründen bereichernd, aber gleichwohl eher eine Zeitverschwendung; und habe mich politisch doch auch deutlich in eine andere Richtung entwickelt. (Höchstens die Sache mit den Mädchen würde ich je nach Lebenssituation nicht abstreiten...) Ein Grund für diese Anpassung an frühere Gegebenheiten hat sicherlich mit einer gewissen Routine zu tun, also dass man in jener Zeit diese Verhaltensweisen so stark (und über einen mehrjährigen Zeitraum) verinnerlicht hatte, dass man nicht anders kann, als sich dieser Anziehungskraft hinzugeben. Andererseits macht es auch Spass, sich mal wieder wie ein Idiot zu verhalten und einen krassen Kontrast zu aktuellen Verhaltensweisen an den Tag zu legen – eine Art Rebellion gegen seinen eigenen Charakter. Jedenfalls gab es anfangs des Corona-Lockdowns ein ähnliches Erlebnis bei mir. Wie wahrscheinlich die meisten Menschen war ich zunächst mal überrascht und wusste nicht, wie mir geschah, als plötzlich diese Pandemie an den Toren aller Ländern anklopfte (wobei die Türen eher eingerannt wurden). Nach einer gewissen Zeit, als der (kollektive) Schock überwunden war, spürte ich vor allem eine tiefe Unzufriedenheit, weil ich – wie wohl die meisten Menschen in Industrieländern – sehr freiheitsliebend war und bin. Ausserdem verspürte ich zusätzlich eine individuelle Frustration, weil ein Teil meiner Social Bubble plötzlich nach immer drastischeren Massnahmen wie Tracking aller Smartphones, ein absolutes Ausgehverbot und horrende Bussen für Spaziergänger*innen verlangte, und ich irgendwie das Gefühl hatte, dass einerseits ein überdurchschnittliches panisches Verhalten über einige Freund*innen schwappte und andererseits gewisse Dinge offenbar gar nicht beachtet wurden (beispielsweise die daraus resultierende Wirtschaftskrise und deren teilweise gravierenden Folgeschäden für Gesundheit, Gesellschaft, Datenschutz, Krankenkasse, Arbeitslosigkeit, Suizidalitätsrate, Kultur etc. pp.). In dieser Zeit fühlte ich wirklich eine akute depressive Verstimmung, die mich zu überwältigen drohte... Doch da dachte ich an eine Schülerin von mir, welche mir bei einem Videochat (wir Lehrpersonen waren ja relativ bald mal auf Fernunterricht umgestiegen) von ihrem neuen Videospiel berichtete und wie sehr sie davon eingenommen wurde. Ich sagte so: «Hmm... Das ist nicht gut; du solltest schauen, dass dein Tag nicht nur aus Gamen besteht!» Gleichzeitig dachte ich zu mir selbst sprechend so: «Hmm... Das ist ganz gut; du solltest schauen, dass dein Tag lieber aus Gamen besteht anstelle von depressivem, demotiviertem Rumhängen zuhause!» Eines Tages hörte ich auf meinem iPod (ja, es gibt noch Leute, die nicht streamen ;-)) die Klavierversionen des Videospiel-Soundtracks von Final Fantasy und da wusste ich: Ich muss nun wohl oder übel das Online Rollenspiel Final Fantasy XIV auf meinem neuen Macbook Pro installieren und spielen. Und wie bei den Klassentreffen war gleich zu Beginn eine Faszination vorhanden: Die bunten, lebendigen Spielewelten; die wirklich wundervolle Musik; die humorvollen Konversationen der Charakteren im Spiel; und die liebevollen Details, welchen man im Spiel begegnet – das alles zog mich extrem in den Bann. Faszinierend waren auch die scheinbar unendlichen Möglichkeiten, die man im Spiel hat. Schon nur um den eigenen Charakter herzustellen, brauchte man einige Minuten, um die richtigen Augenbrauen, Gesichtsmerkmale, Sprechstimme oder was auch immer zu finden. Mir schien es manchmal fast, als könnte man wohl mehrere Jahrzehnte mit dem Spiel verbringen und würde immer noch neue Dinge kennenlernen. Genau deshalb fiel mir wohl auch etwas anderes relativ früh auf: Das äusserst süchtig-machende Spielkonzept. So ertappte ich mich bald regelmässig, wie ich am Abend mit dem Spielen anfing und dann plötzlich deutlich nach Mitternacht verwundert und müde auf die Uhr schaute. Und selbst als ich den Laptop schon ausgeschaltet und die Augen geschlossen hatte, verfolgten mich noch die Bilder (bloss nicht vor dem Einschlafen zocken!) und ich freute mich schon auf den Morgen danach. In solchen Momenten realisierte ich, wie hilflos sich manch eine junge Person wohl fühlen würde, angesichts dieser virtuellen Verlockungen. Denn ich war immerhin ein erwachsener Mann mit einer ausgeprägten Selbstdisziplin (seit vielen Jahren vegan, keine Flugreisen, keine Fast Fashion etc.); aber wie kann ein Jugendlicher einer solchen Betörung widerstehen? Besonders wenn die Alternative Hausaufgaben erledigen und für Prüfungen lernen ist... Doch auch wenn ich die zuweilen perfiden Tricks der Videospiel-Industrie verteufelte, musste ich auch anerkennen, wie unterschätzt eigentlich diese – in meinen Augen – Kunstform ist. Als erwachsene Person denkt man beim Stichwort «Gamen» wohl an picklige Nerds und eher weniger an eine Art bespielbare Filme oder Serien voller Abenteuer. Ich bohrte mich allerdings immer tiefer in dieses Gefühl des Gamens und wollte für meine Spielfigur auch eine «freie Gesellschaft» gründen, eine Art Community, zu welcher man zugehörig ist. Mein Ziel war es, eine vegane Gesellschaft (also die gibt es ja eigentlich schon... ;-)) zu gründen; eine Idee, die allerdings in den Online-Foren von Final Fantasy wenig Anklang fand, wie ich merken musste. ^^ Glücklicherweise konnte ich auch ohne Abschliessung dieser Gesellschaft – mir fehlten nämlich Mitspieler*innen, die sich mir anschliessen würden (bei Interesse bitte melden!) – mit dem «Vegan»-Label (s.o.) durch die Welten rennen, wodurch ich das Gefühl hatte, doch irgendwie noch ein bisschen zur Normalität dieser sozialen Bewegung innerhalb der Videospiel-Welt beizutragen. Und ich trug ausserdem ein bisschen zu meiner eigenen Normalität als gesellschaftskritischer Aktivist bei - eine Tätigkeit, welcher ich dank Corona nur noch sehr beschränkt in der realen Welt nachgehen konnte (und im Videospiel zumindest so halbwegs; auch wenn ich in den Augen vieler gestandener Gamer wohl eher wie eine Art Troll wirkte). Übrigens darf man den Workload eines Gamers nicht unterschätzen: Um besser zu werden und mich weiterzubilden, schaute ich zahlreiche Youtube-Tutorials an, weil das die einzige Möglichkeit war, wirklich gut im Spiel zu werden. Denn wenn man wirklich erfolgreich sein wollte, brauchte man nicht nur die richtige Ausrüstung und Waffen, sondern vor allem auch kluge Strategien. (Und wie bereits gesagt: Sehr viel Zeit.) Ich erinnere mich an einen Moment, als ich einen gemeinsamen Quest machte, also eine Art Auftrag, welchen ich mit anderen (menschlichen) Spieler*innen erledigen musste: Da ich keine Ahnung hatte, wie man einen gewissen Zauber machte, hatten wir letztendlich Mühe, die Mission zu erfüllen, weil es eben bereits fatal sein kann, wenn ein Mitspieler des Teams nicht versiert genug ist. Man trägt also auch eine gewisse Verantwortung für andere Mitspieler*innen, wenn man sich einem solchen Online-Rollenspiel annimmt. Doch auch wenn es in dieser Situation etwas böses Blut gab (im Gruppen-Chat wurde ein bisschen abgehated über mich ^^), so ist die Community doch grundsätzlich sehr zuvorkommend. Das deckte sich übrigens auch mit den Beobachtungen eines Youtube-Channels, welchen ich in den kommenden Tagen entdecken sollte... Wie bei so ziemlich allen Beschäftigungen, welchen ich nachgehe, mache ich diese immer mit vollkommener Leidenschaft. Das bedeutete, dass ich mich ganz allgemein mehr für Videospiele zu interessieren begann und auch meiner Videospiel-Biographie nachging. Unter anderem schaute ich sogenannte Speedruns, also Videos von Gamern, welche möglichst rasch das Spiel abschliessen wollten. So konnte ich alte Klassiker wie Sonic The Hedgehog oder Abe’s Oddysee (über beide Spiele habe ich übrigens bereits im Blogpost «Der Retro Aktivist» geschrieben) wiederentdecken. Ausserdem versuchte ich, bei jedem meiner Lieblingsspiele von früher die Merkmale herauszudestillieren, weshalb ich diese Spiele damals so geliebt hatte. Auch lernte ich auf meiner Youtube-Odyssee neue Videospiele kennen, bei welchen ich etwas melancholisch wurde, da ich diese in meiner eigenen Jugend gerne gespielt hätte. So zum Beispiel das wunderbare Zelda: Breath Of The Wild, bei welchem ich das Gefühl kriegte, dass man eher eine gewisse Stimmung als eine Story spielt (diese "Stimmung" wirkte auf mich wie eine Mischung aus Gemälde von Caspar David Friedrich und den Filmen von Haya Myiazaki). Selbst als Youtube-Zuschauer*in spürt man irgendwie dieses Gefühl von Freiheit und Sehnsucht, auch wenn man die Spielfigur gar nicht kontrolliert. Aber zurück zu den Speedruns: Durch diese Youtube-Videos bemerkte ich aber auch eine weitere unterschätzte Eigenschaft der Gaming Community: Da es viele Personen gibt, die möglichst schnell sein wollten, gibt es eine Art professionelles Setting, wo dann solche «World Records» im Speedgaming stattfinden. Und ich empfehle allen Menschen mal so etwas anzusehen, weil es für mich genauso beeindruckend ist wie eine Tour De France oder ein Skirennen. Denn jeder kleinste Fehler sorgt dafür, dass du den Rekord nicht brechen kannst. Dabei musst du je nach Spiel zwischen einer halben Stunde und mehreren Stunden extrem konzentriert bleiben und solltest am besten die kompletten Spielewelten praktisch auswendig kennen, damit du weisst, welche Nebenaufgaben du streichen kannst, welche Wege die schnellsten sind und in welcher Sprache die Zwischensequenzen am kürzesten sind (kein Witz; häufig wählt man z.B. Französisch, weil diese Sprache in der Regel schneller ist als Deutsch oder Englisch). Und im Rahmen dieses Speedgamings stiess ich eben auch auf den Youtube-Channel «Games Done Quick», wo praktisch immer Spenden für gute Zwecke gesammelt werden, wenn so ein Speedgaming-Event stattfindet. Stellt euch vor, bei der nächsten Fussball WM würden keine Unmengen an Gelder an Spieler, nationale Fussballverbände, Fifa und Co. fliessen, sondern an NGOs und gemeinnützige Projekte... Wäre das nicht eine erstrebenswertere Welt? Anyway, nach ein paar Wochen merkte ich allerdings, dass ich mich auch wieder etwas von der Spielewelt verabschieden musste; einerseits, weil ich wieder motivierter für Gartenprojekte, Aktivismus, Soziales, Musik wurde; und andererseits weil mein Macbook Pro beim Gamen immer brutal heiss wurde, so dass ich tatsächlich Angst kriegte, dass der neue Laptop irgendwann den Geist aufgab. Und siehe da: So schnell wie die Phase mich übermannte, so schnell war sie auch vorbei und es vergingen drei Wochen, in welchen ich mein Alter Ego in Final Fantasy kaum mehr anrührte. Je stärker die Corona-Massnahmen gelockert würden, desto mehr würde ich wohl wieder der virtuellen Welt den Rücken kehren. Doch dieser kurze und heftige Einblick in diese faszinierenden Spielewelten waren nicht nur bereichernd, sondern tatsächlich auch hilfreich im Bewältigen einer schweren individuellen und gesellschaftlichen Zeit. Und dies war für mich auch eine kleine Erkenntnis, die anderen Menschen vielleicht auch helfen könnte: In einer Zeit, in der es immer um "mehr und schneller" geht, darf man ruhig auch mal unproduktiv sein und sich eine Verschnaufpause gönnen (ich persönlich fand jetzt Final Fantasy spannender als Netflix-Serien-Bingewatching). Und in einer Zeit, in welcher es jemandem - besonders einem "Gutmenschen" - mental vielleicht nicht so gut geht, ist es auch okay, mal einfach etwas zu tun, was Spass macht oder ein bisschen ablenkt von dem externen oder internen Chaos. (Zumindest solange diese Aktivität gut tut und man nicht noch mehr in ein Loch fällt oder die Realität meidet, weil die virtuelle Welt aufregender ist...) Wer weiss, ob ich bei der nächsten Krise (der Klimawandel klopfte diesen Frühling beispielsweise schon wieder heftig an die Türe) wieder eine Game-Phase haben werde... Ich freue mich jedenfalls schon wieder ein bisschen darauf... ...auf die kommenden virtuellen Abenteuer! PS: Kleiner Hinweis: Nach diesen zwei Wochen habe ich mich an einem verregneten Tag mal wieder an den Laptop gesetzt, um Final Fantasy zu spielen. Nach vier Stunden gamen ohne Unterbruch musste ich dann zugeben, dass die Phase doch nicht so abrupt geendet hatte, wie ich wohl gedacht habe. ;-)
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