Das Internet vergisst nie, sagt man.
Und natürlich haben diese Leute nicht ganz unrecht. Mit einem Klick hat man meist Zugriff auf einen beachtlichen Teil einer beliebigen Biografie: Liebeskummer, digitale Wutausbrüche, besuchte Restaurants, alkoholisierte Gesichtsausdrücke, ja sogar Nudes vielleicht irgendwo. Je nachdem wie prominent man ist und wie gross dementsprechend das Interesse der Allgemeinheit an einem ist, desto stärker dokumentiert und veröffentlicht wird alles. So habe ich mir kürzlich von John Oliver erklären lassen, dass es beispielsweise einen US-amerikanischen Wrestler gibt, der sich während eines Kampfes in die Hose gemacht hat (Nummer 2) und zwar live vor Kamera und Publikum. Früher hätte die Bevölkerung sicherlich auch darüber gelacht – oder wie ich: mitgelitten –, aber aus diesen Bildern wäre vermutlich nach verstrichener Zeit eine Anekdote geworden, welche irgendwann verblasst wäre. Heute hingegen stehen uns Aufnahmen solcher ungünstigen Erlebnisse jederzeit und innert weniger Klicks zur Verfügung. Aber ich wage zu behaupten, dass die digitale Demenz nicht zwingend das grösste Problem des Internets ist. Denn einerseits vergisst das Internet ja auch nicht die positiven Dinge, die man gemacht oder erreicht hat (aus diesem Grund habe ich persönlich noch nie verstanden, wenn Leute zu mir gesagt haben «Pass auf, was du hochlädst!»; denn wer das virtuelle Puzzle über mich zusammensetzt, sieht grösstenteils viele altruistische, vorteilhafte Sachen von mir oder über mich ;)). Nein, das grössere Problem könnte sein, dass das Internet eben sehr wohl vergisst. Oder zumindest die Menschen, die es verwenden. Es gab eine Zeit, da habe ich monatlich viermal einen Blogpost veröffentlicht. Das war allerdings ganz zu Beginn, als ich noch Feuer und Flamme war fürs Schreiben. Nach anfänglich sehr grossem Interesse seitens der Leser*innen, liess dieses aber jedoch langsam wieder ab, so dass ich mir irgendwann die Aufwand-Ertrag-Frage stellen musste: Für was soll ich mir die Mühe machen, Stunden in einen Text zu investieren, der dann bloss von einer Handvoll (treuer) Leute gelesen wird? Aus diesem Grund wechselte ich irgendwann zu Youtube, wo ich auf mehr Interesse stiess. Oder zumindest anfangs. Denn auch dort verblasste irgendwann die anfängliche Beachtung (wobei mir die aktuellen Statistiken sagen, dass das grundsätzliche Interesse an Youtube-Content immer noch höher ist als jenes an Blogposts). Würde ich heute mit einem Projekt starten, ich würde wohl auf Podcasts oder TikToks setzen. Aber ja, irgendwann hat man dann wohl auch genug vom Katz und Maus Spiel, in welchem man versucht immer den neusten Trends nachzurennen und sich den Launen der Kundschaft zu beugen. Diese Demotivation zeigte sich bei mir übrigens besonders bei Texten, welche temporäre Themen behandelten: Anfangs schrieb ich zu jeder Initiative und grösserer Abstimmung in der Schweiz einen Blogpost mit möglichst differenzierten Überlegungen dazu. Doch wer liest sowas heute (einige Jahre später) noch? Wen interessiert es, was ich mal zur Durchsetzungsinitiative oder zur Initiative «Grüne Wirtschaft» geschrieben habe? Diese Texte werden vermutlich noch sehr lange fortbestehen (ich weiss nicht, ab welcher Zeit von Inaktivität ein ganzer Blog mitsamt seinen Beiträgen gelöscht wird...), aber vergessen sind sie heute schon. Aus diesem Grund habe ich mich häufiger zu Themen geäussert, die immer (oder hin und wieder) aktuell sind; Beiträge, die man mehr als einmal zücken und teilen kann (über Themen wie Weltschmerz, Whataboutism und Wissenschaftlichkeit). Im besten Fall also zeitloste Texte. Interessanterweise steigt durch die Tatsache, dass, aufgrund der Schnelllebigkeit digitaler Beiträge, Hunderttausende von Videos, Texten, Bildern oder Musik (man denke an die 60'000 täglichen Uploads von neuen Songs auf Spotify & Co.) in das scheinbar endlose Server-Universum gespült werden, auch die Lust an Nichtigkeit und Willkür. Wenn eh niemand meine Songs, Texte und Videos anhört, liest oder anschaut, kann ich eigentlich machen, was ich will. Ähnlich wie die Erkenntnis, dass nach dem Tod vermutlich nichts mehr ist, hat auch die Vergesslichkeit des Internets etwas Tröstendes und Entlastendes. (Zumindest für diejenigen Menschen, die finanziell nicht davon abhängig sind; Personen, die von Musik, Literatur, Kunst etc. leben [oder dies zumindest versuchen], werden dem Ganzen vermutlich wenig Gutes abgewinnen können.) In der Konsequenz heisst das: Ich kann theoretisch drei Monate nichts schreiben und es ist völlig okay. Oder ich kann über einen einsamen Strommast in einem Rapsfeld schreiben oder über das Grün von jurassischen Fichtenwäldern. Who cares anyway, right? Solange dieser bescheidene Realismus nicht in einen antriebslosen Nihilismus ausartet, sehe ich in der Vergänglichkeit des Internets zumindest nicht nur Schlechtes (auch wenn man an dieser Stelle mal wieder auf die stets schlimmer werdende Klimabilanz von Streaming, Internet und Co. hinweisen sollte). Und wem diese Wort jetzt keinen Trost schenken, dem oder der sei noch folgender Gedanken ans Herz gelegt: Manchmal ist es einfach auch gut zu vergessen, dass das Internet vergisst.
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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