Es gibt ja Leute, die folgen ihren Führern bis in den Tod. Es reicht allerdings schon, wenn sie bedingungslos hinter deren absurden oder gar unmenschlichen Vorstössen stehen, ohne ihr Leben dabei aufs Spiel zu setzen. Wir haben dies beispielsweise bei der Durchsetzungsinitiative letzten Winter gesehen, als (zu) viele SVP-Anhänger die Idee unterstützten, zugunsten eines subjektiven Bauchgefühls die Europäischen Menschenrechte zu kündigen (entschuldigt, dass ich immer noch darauf rumhacke, aber da wart ihr echt die grösseren Schafe als jene auf euren Plakaten).
Eigentlich hätte ich erwartet oder zumindest gehofft, dass sich mehr bürgerliche WählerInnen dagegen auflehnten, weil ihnen diese Initiative einfach zu weit geht. Und zwar nicht in Form eines feigen, nachträglichen Relativierens, wie dies dann doch teilweise gemacht wurde. Leider funktioniert das Parteisystem in der Politik meist nicht so und die Leute setzen Gehorsam und übertriebene Loyalität über Verstand und Rationalität. In den USA sehen wir dieses undifferenzierte, binäre Wahlverhalten fast noch besser als bei uns in der Schweiz. Immerhin wird Donald Trump noch immer von der republikanischen Mehrheit (mehr oder weniger zähneknirschend) unterstützt. Sicher sahen wir einige mutige und kritische Auftritte von namhaften Republikanern wie beispielsweise Ted Cruz, der seine Unterstützung verweigerte; trotzdem gibt es auch in den USA noch zu viele folgsame Schafe, als dass man mit einer aufrichtigen Gelassenheit in Richtung Präsidentschaftswahlen im November blicken könnte. Diese endlose Parteitreue betrifft übrigens nicht nur die rechten Parteien (auch wenn diese doch etwas häufiger in die Falle des unreflektierten Parteigehorsam zu tappen scheinen). Nein, in letzter Zeit nervten mich auch die linken Parteien, die sich unter anderem über Mario Fehrs Infragestellung der Burka ärgerten. Dass selbst die blosse Erwägung (also keine Unterstützung) eines solchen Verbots einen Shitstorm auslöste, fand ich etwas gar übertrieben. Immerhin will ja eigentlich niemand die Burka in unserem Land haben – egal ob links oder rechts. (Wir lassen jetzt mal die Tatsache weg, dass das Wort „Burka“ sowieso ziemlich vage ist [arab. „etwas Bedeckendes“] und es zig verschiedene Formen von Verschleierungen je nach Region und Religion gibt.) Natürlich muss ein Verbot gut bedacht sein und die Vor- und Nachteile abgewogen werden. Nach mehreren Diskussionen (mit vor allem politisch links-orientierten Mitmenschen) kam ich jedoch stets zum Schluss, dass sich die positiven und negativen Effekte eines Verbots ungefähr die Waage halten, und die Ausgangslage daher gar nicht so klar ist, wie alle stets bekunden. Ein solche Kleidungsvorschrift könnte beispielsweise dazu führen, dass Burka-tragende Muslimas quasi zu Hause eingesperrt würden, da man ihre Art sich zu kleiden nicht mehr in der Öffentlichkeit tolerierte; und dass dies ja weder in ihrem, noch in unserem Interesse sein könne. Absolut einverstanden. Sollte das Tragen von Burkas jedoch untersagt werden, könnte dies doch aber auch dazu führen, dass die Frau über ihren Schatten spränge (oder springen müsste) und halt mit Kopftuch statt Burka nach draussen gehen würde, oder nicht? Beide Ausgänge sind möglich. Und höchstwahrscheinlich würden auch beide bei einem effektiven Verbot auftreten (also nicht nur das eine oder das andere). Ausserdem ist das Erlauben von Burkas kein Garant, dass sich diese Frauen irgendwie integrieren können. Wer hat schon mal mit einer Frau in einer Burka in irgendeiner Form Kontakt aufgenommen (ausser diejenigen, die sich beruflich oder ehrenamtlich mit Flüchtlingen auseinandersetzen; übrigens herzlichen Dank für euren Einsatz: Ihr leistet einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag)? Eben. Das Tragen einer Burka könnte man ja auch als expliziten Wunsch nach sozialer Distanz und kommunikativem Desinteresse interpretieren, also dass man gar nicht in der Öffentlichkeit kontaktiert werden möchte (was in unserer Kultur ja nicht gross anders ist, wenn man mal in den öffentlichen Verkehrsmitteln all die Passagiere mit Smartphones und Kopfhörern betrachtet). Natürlich finde ich ein Gesetz seltsam und befremdend (und juristisch nicht so einfach umsetzbar), das regeln soll, wie sich jemand anzuziehen hat; immerhin ist das grundsätzlich jedermanns/jederfraus Sache und es niemanden verletzt, wenn man jetzt ein grässliches Teil aus den 80er Jahren oder ein schwarzes Kopftuch trägt. Andererseits gibt es ja auch im Bereich der Kleiderordnung Einschränkungen. Ich kann ja beispielsweise nicht mit einem Hakenkreuz rumspazieren (abgesehen davon, dass ich dies ja auch nicht wollte). Wiederum würde dies wohl auch ohne Verbot von hoffentlich couragierten Mitmenschen entsprechend kritisiert, so dass er oder sie sich mächtig unwohl fühlten und ein solches Outfit das nächste Mal lieber im Schrank liessen (oder besser: in den Abfall werfen würden; hier empfehle ich – für einmal nicht im Sinne der Nachhaltigkeit – keine Entsorgung in einem Altkleider-Sack). Was allerdings wieder gegen die Burka sprechen würde, ist folgende Überlegung: Wenn wir davon ausgehen, dass gänzlich nackt zu sein, das eine Ende des Spektrums einer Kleiderordnung ist, dann ist die Burka, welche den Körper (beinahe) ganz bedeckt, doch am anderen Ende anzusiedeln (nur noch ein undurchsichtiger Augenschleier und zusätzlich eine Art Gestell, damit nicht mal mehr die Form eines Körpers erahnt werden könnte, wäre der Inbegriff der absoluten Verschleierung). Nun kann eine Person ja aber nicht ganz nackt durch die Strassen flanieren (auch hier gilt übrigens: es handelt sich dabei um eine rein hypothetische Überlegung, welche nicht als exhibitionistische Veranlagung des Autors interpretiert werden darf), im Coop ein Eis kaufen und anschliessend im vollgestopften Bus zur Arbeit fahren. Wenn in diesem fiktiven Beispiel also die Kleidungspolizei eingreifen sollte, wieso sollte dann die fast komplette Verschleierung erlaubt sein (im Gegensatz zum ebenfalls medial ausgeschlachteten Tatort „Schwimmbad“, wo es der Frau ja häufig grundsätzlich erlaubt ist, sich ganz oder teilweise zu entblössen, und es deshalb auch absolut legitim sein sollte, mit einem Burkini schwimmen zu gehen; abgesehen davon, dass ein Burkini das Antlitz ja immer noch offenbart)? Oder müsste das Äquivalent zur Burka-tragenden Muslima ein Typ in engen Tangas sein? Und würde dies die Sache (optisch) besser machen? Warum lassen wir denn nicht auch Letzteres zu, statt ein Kleidungsstück ganz zu verbieten? Oder würde dies dann doch zu weit gehen, wenn wir diese demonstrative Geste der Provokation durch das stete Entblössen in der Öffentlichkeit (resp. komplette Verschleiern bei der Burka) tolerieren würden? Und sollten wir dann - in ebenso provokativer Manier - alle Ehemänner von Burka-tragenden Muslimas ebenso auffordern, aus Solidarität eine Burka zu tragen? Was ich damit eigentlich sagen will: Dass ich persönlich mit einem (Verhüllungs-)Verbot leben könnte. Aber dass ich ebenso damit einverstanden wäre, wenn dies gesetzlich nicht geregelt würde; da ich viele Kontra-, aber eben auch einige Pro-Argumente nachvollziehen kann. Und dass wir mit massiv grösseren Problemen zu kämpfen haben, als mit der Frage nach einem Kleidungsstück, dass in der Schweiz sowieso sehr selten anzutreffen ist (die Situation sähe vermutlich anders aus, wenn wir tatsächlich hunderttausende permanente Burka-Trägerinnen in der Schweiz hätten). Deshalb schlage ich Folgendes vor: Wir machen einen Deal mit den bürgerlichen Parteien und geben ihnen meinetwegen ihr relativ unbedeutendes Verbot; dafür sollen sie – auch wenn dieser Deal womöglich etwas abgebrüht klingen mag – im Gegenzug für die Initiative „Grüne Wirtschaft“ stimmen. Denn hier haben wir es mit einer Angelegenheit zu tun, die uns wirklich alle betrifft – selbst Menschen und andere Lebewesen ausserhalb der Schweiz und ganz besonders auch zukünftige Generationen. Wenn wir nicht anfangen, unseren Planeten zu schützen, dann stehen wir irgendwann mal an einem Punkt, an dem wir nur noch reaktiv (und wohl erfolglos) versuchen können, das Geschehene ungeschehen zu machen. Der Regenwald wird immer kleiner (über 80% gehen dabei auf Kosten der Nutztierhaltung), die Meere sind bereits zu 3/4 überfischt (und voll von Mikroplastik), der Erde geht langsam der Sand aus (für die Produktion von Glas, Beton, Elektronik etc.), die CO2 Emissionen sind durch unser exzessives Reiseverhalten schon jetzt so hoch, dass das 2-Grad-Ziel kaum mehr erreicht werden kann und wir benötigen in der Schweiz im Durchschnitt über drei Erden für unseren Lebensstil – doch wir debattieren stattdessen über den (Un)Sinn von verschleierten Gesichtern. Das ist insofern absurd, als dass eine richtige Diskussion über die kommende Initiative weitgehend vernachlässigt und mit der zu einfachen Behauptung des „grünen Zwangs“ niedergerungen wurde. Dass wir für die Reduktion des ökologischen Fussabdrucks jedoch nicht nur auf Solarstrom, Elektroautos und technischen Fortschritt hoffen dürfen, sondern tatsächlich auch eine Lebensstiländerungen der Bevölkerung benötigen, scheint deshalb weniger das Hauptargument gegen die Initiative zu sein, sondern vielmehr den Ernst der Lage und die Folgen unseres Handelns zu zeigen. Denn wie sehr macht es Sinn, einfach die alte Technik durch eine innovativere, nachhaltigere Technik zu ersetzen und ansonsten weiterzumachen wie bisher? Wieso sollte eine Anpassung an aktuelle Begebenheiten (Ressourcenschwund, Überbevölkerung etc.) nicht erstrebenswert sein? Führt mehr Produktion und Besitz tatsächlich zu mehr Wohlstand und Glück? Und wieso bedeutet eine Veränderung für viele Menschen immer gleich eine Abwertung des Wohlstands? Handelt es sich bei dieser Vorstellung womöglich um die gleiche Angst, die beim Thema Burka aufkeimt? Die Angst etwas zu verlieren, was man jedoch gar nicht richtig fassen kann und vermutlich im globaleren Kontext ziemlich nichtig wirkt? Im Moment ist diese Angst noch weitaus grösser als die Angst vor einer zukünftigen ökologischen Katastrophe. Aber genauso wie die Wirtschaft nicht ewig wachsen kann, ist auch der Platz und die Ressourcen unseres Planeten irgendwann ausgeschöpft. Vielleicht nicht heute, aber irgendwann. Besonders dann, wenn auch andere Länder das Gefühl (von uns) vermittelt bekommen, immer mehr sei immer besser. Wenn also reiche Industriestaaten wie die Schweiz aufstrebenden Schwellenländer ein ebenso exzessives, ausuferndes Verhalten untersagen wollen und wir gleichzeitig nicht darauf verzichten wollen, wirkt dies nicht sehr authentisch und wir scheinen zu vergessen, dass wir unser unbeschwertes Leben auch dem Verzicht anderer Länder und der Natur verdanken. Es wäre also in einem global-demokratischen Interesse, wenn wir mittels Lebensstiländerung den ärmeren Staaten und der Umwelt mehr Wohlstand ermöglichten. Es stellt sich deshalb die Frage, ob wir tatsächlich so unflexibel, so egozentrisch und so unbelehrbar sind - oder vielleicht eher sein wollen -, dass wir einfach so weitermachen möchten, wie bisher. Oder ob es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, wenn wir jetzt einfach zugunsten einer Initiative abstimmen würden, die uns (und natürlich ebenso die Unternehmen und den Staat als solches) tatsächlich ein bisschen in den Arsch treten und uns zum Handeln nötigen würde. Selbst wenn wir das ambitionierte Ziel nicht erreichen sollten, bis 2050 unseren ökologischen Fussabdruck auf eine einzige Erde zu senken, haben wir doch immerhin unser Bestes dafür gegeben und können stolz darauf sein, als Wohlstandsland eine Vorbildfunktion übernommen zu haben. Und vielleicht war ja die Burka-Debatte gar nicht ganz umsonst und wir können einen metaphorischen Mehrwert daraus destillieren: Eine Muslima mag womöglich fast gänzlich verhüllt sein und nur einen kleinen Bereich ihres Gesichts offenbaren. Wir hingegen haben zwar die liberalere Kleiderordnung, aber was bringt uns das, wenn unsere Augen durch eine rosarote Brille verdeckt sind, welche unser Sehvermögen verschleiert und dadurch unsere fehlende Weitsicht entblösst?
2 Comments
Jörg
12/9/2016 12:08:50 pm
Ich finde es gut, dass sich die Initiative über bindende Ziele statt Maßnahmen definiert. Das sollte ihr den bürgerschrecklichen Zahn etwas ziehen, da die damit verbundenen (effektiv vermutlich ziemlich insubstanziellen) Lebensstilverluste im Vorfeld nicht greifbar sind. Toi toi dass das durchkommt. Und kudos für deinen rechtschaffenen Zorn; mehr davon.
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Guten Tag Herr Jörg
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