Vor kurzem bin ich morgens aufgewacht und war komplett erschöpft. Nicht etwa, weil ich zu wenig Schlaf gekriegt hätte (dies hatte ich die Nacht davor, als ich auf einer wilden Party im Keller in einem improvisierten Shisha-Raum versuchte auf einer Matraze zu schlafen – inmitten vom Brummen der Heizung sowie aufgeregtem Stimmengewirr und dumpfen Basstönen vom „Dancefloor“ nebenan), sondern weil ich so viele unterschiedliche Träume hatte. Eine regelrechte Odyssee bestehend aus Träumen.
An die ersten beiden Träume konnte ich mich gar nicht mehr erinnern; sie wurden wohl von den späteren Traumsequenzen überlagert und gänzlich ausgelöscht. Erst an den dritten Traum konnte ich mich einigermassen erinnern, aber auch jener blieb vage und verschwommen... Traumsequenz 3: Es war Sommer. Irgendwo auf einem Platz. Vielleicht in Mailand vor dem Dom, vielleicht aber auch in Rom – selbst wenn ich dort noch nie gewesen war. Jedenfalls fühlte es sich irgendwie italienisch an. Der weitläufige, offene Platz war angenehm ruhig und ich genoss die Sonnenstrahlen in meinem Gesicht und die Wärme, die der Boden reflektierte. Doch dann füllte sich die Umgebung immer mehr mit Menschen. Wie bei Ebbe und Flut strömten plötzlich unzählige Touristen mit Smartphones und Selfiesticks auf den Platz und es wurde enger und ungemütlicher. Leute stiessen sich gegenseitig an und wuselten wild umher, als ob sie auf der Suche nach etwas wären. Weniger nach einem Ort oder einem verlorenen Gegenstand als eher etwas Grösserem, vielleicht einem Lebenssinn... Die Menschenmasse wurde jedenfalls stets grösser und erste Anzeichen von Panik machten sich bei einigen Leuten breit. Dann kriegte ich plötzlich einen Ellenbogen in den Rücken und wachte auf. Traumsequenz 4: Ich war auf dem Fahrrad unterwegs, irgendwo auf einem Schotterboden im Wald. Etwas weiter unten konnte man einen Fluss sehen, der in sattem Petrol leuchtete. Gut möglich, dass es sich um Bilder aus dem Berner Seeland handelte. Das Gewässer schlängelte sich zumindest schwungvoll durch das grüne Dickicht, wie ich es von Wanderungen in jener Region kannte. Neben mir radelten noch meine Schwester und eine weitere Person, die ich allerdings nicht erkennen konnte. Wir alle waren in Eile und äusserst gestresst. Deshalb hatten wir auch kaum Zeit, uns der schönen Umgebung zu widmen, welche uns entlang der Flussmündung führte. Ein Teil von mir wollte anhalten, absteigen und die umliegende Natur erkunden, aber irgendetwas trieb mich weiter an, so dass ich nicht einmal Zeit fand, links oder rechts zu schauen. Einfach geradeaus. Weg von irgendwas, hin zu irgendwas. Nach einer Weile erreichten wir eine Lichtung im Wald mit einem imposanten Brunnen aus glattem Marmor, aus welchem reinstes Wasser floss. Und obschon die Szenerie so märchenhaft und wunderbar wirkte, wie der Brunnen eines versteckten Schlosses, schien keine Menschenseele dort zu sein – auch wenn die Schönheit dieses Ortes jenen von Touristen überlaufenen Platz aus dem vorangegangen Traum deutlich übertraf. Wie konnte das sein, dass diese prächtige Lichtung so leer war und eine solche Ruhe ausstrahlte? In diesem Moment hörte ich plötzlich ein Klavierstück – ganz laut und ganz nah. Gymnopedie No. 1 von Erik Satie. Für einen Augenblick war ich nicht ganz sicher, ob das Stück womöglich aus der realen Welt kam und nicht bloss im Traum existierte – so intensiv war die Präsenz dieses Stücks. (Als ich am Morgen danach im Zug zur Arbeit fuhr, erinnerte mich diese Szene doch sehr stark an den Film „Inception“...) Aber nichts tat sich. Ich wachte nicht auf. Ich hörte für einen kurzen Moment lang gebannt zu und spürte diesen inneren Frieden. ... Da passierte etwas Seltsames: In diesen wenigen Sekunden schien ich mich nämlich irgendwie aufzuteilen. Denn die Ruhe, die diese Musik ausstrahle, war so intensiv, dass ein Teil von mir an jenem Ort bleiben wollte, sich dort für immer niederzulassen gedachte. Gleichzeitig hatte ich ja eigentlich keine Zeit dafür und musste weiter über den Platz eilen. So blieb ein Teil von mir an jenem Ort zurück, während der andere weiter zog. Die Musik spielte stoisch weiter. Plötzlich erkannte ich (oder der eine Teil von mir), dass dieser magische Ort gar nicht wirklich existierte; denn neben dem Brunnen war gleich ein grosser Bahnhof, wo es von Menschen nur so wimmelte. Mit der inneren Ruhe war es augenblicklich vorbei. Irgendwie gelangten wir - ich war ja noch mit zwei anderen Leuten unterwegs - jedenfalls in die Bahnhofshalle und versuchten das korrekte Perron auszumachen. Doch während die fremde Person, welche auch mit mir unterwegs zu sein schien, den Zug tatsächlich erwischte, schafften meine Schwester und ich es nicht mehr und wir sahen die Bahn nur noch langsam abfahren und in der Ferne verschwinden. Die Musik war mittlerweile fast komplett verstummt und hallte dumpf und leise im Hintergrund weiter. Traumsequenz 5: Auch der letzte Traum war lediglich eine kurze Sequenz: Ich stand bis zu den Knien in einem Fluss, der aber gleichzeitig irgendwie auch das Meer war. Zumindest befanden sich im Sand und Wasser lauter faszinierender und bunter Lebewesen. Doch alle schienen sich zu verstecken. Nur selten schaute ein Wesen kurz hervor, bevor es sich wieder hastig in sein Versteck zurückzog. Eine Lehrerkollegin von mir war auch irgendwo in der Nähe, auch wenn ich während der Traumsequenz kein Wort mit ihr sprach und sie nur ruhig das Wasser studierte. Ich fragte mich, was der Grund dafür sein könnte, dass sich alle diese Tiere versteckten, also spähte ich umher und erblickte in der Nähe eine Art Strandhaus. Ich stieg mit einem Schritt halb aus dem Wasser und erkannte, dass das Meer zu einem kleinen See wurde. Auch färbte sich das Wasser irgendwie dunkler, bedrohlicher. Obwohl ich ahnte, dass diese beunruhigende Veränderung der Umwelt offensichtlich mit mir und meiner Abwendung der Natur zu tun hatte, wollte ich trotzdem näher zu diesem Haus gehen und schauen, was es damit auf sich hatte. Doch mit dem nächsten Schritt, stand ich plötzlich schon auf einem Parkettboden und war irgendwie schon mit einem Fuss in der Wohnung drin. Das Strandhaus hatte plötzlich auch keine Wände mehr und ich sah sowohl in die Räume hinein sowie in die Natur hinaus. Dort draussen war der See mittlerweile auf wunderliche Weise zu einem kläglichen Teich geschrumpft, welcher kaum mehr Leben zu beherbergen schien. Wieder spürte ich dieses seltsame Gefühl in mir – eine Mischung aus Sorge und Stress. Je mehr ich mich in Richtung Wohnung bewegte, desto mehr wich die Natur hinter mir und ich spürte, wie der Teich mit jeder noch so kleinen Bewegung meinerseits stärker austrocknete. Als ich schliesslich endgültig in der Wohnung angekommen war und es wagte, einen Blick zurück zu werfen, sah ich nur noch eine braune Einöde, wo einst ein mächtiger, mit Leben erfüllter See war. Was haben wir bloss angerichtet, dachte ich – und wachte auf.
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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