Eigentlich müssten auf meinem Bankkonto monatlich ungefähr 1000.- mehr drauf sein...
Aber dazu später mehr. Wir alle sind – so scheint es – overworked. Wenn man mal tatsächlich die Antwort auf die Frage „Wie geht es dir?“ abwartet, dann könnte man meinen, dass wir es offenbar mit einer permanent überarbeiteten Bevölkerung zu tun haben, da auf der Arbeit praktisch immer "gerade viel los" sei. Kaum je hört man, dass das Gegenüber komplett gelangweilt sei und viel zu viel Zeit übrig habe, mit welcher man nichts anzustellen wisse (dies kenne ich eigentlich nur von meinen Schüler*innen) . Das hat wohl auch damit zu tun, dass wir es nicht mehr gewohnt sind, einfach mal nichts zu tun. Oder wer hat das letzte Mal als Antwort gekriegt, dass die Gesprächspartnerin oder der Gesprächspartner einfach auf einer Parkbank den Vögeln gelauscht oder in der Wiese liegend die langsam vorbeiziehenden Wolken betrachtet habe? Wenn wir dann also mal neben der Arbeit etwas Zeit zur Verfügung haben, kommt bei vielen Menschen gleich diese innere Stimme hervorgeschossen, dass man produktiv sein müsse – auch ausserhalb der Arbeitszeiten. Diese „Produktivität“ zeigt sich nicht immer nur in Form von sportlicher Tätigkeit, musikalischer Hingabe oder künstlerischem Schaffen, sondern kann auch durchaus im Sinne von „Produkte konsumieren“ verstanden werden: Shopping, Bachelor(ette) schauen, Instagram-Influencer stalken etc. pp. Jetzt mag man sich vielleicht fragen, worin liegt denn das Problem im ausgeprägten Konsumbedürfnis und dem Frönen des Hedonismus? Abgesehen von den damit verbundenen ethischen und ökologischen Folgeschäden des übermässigen Konsumverschleisses (durch die Produktion von Textilien, technischen Geräte, Lebensmitteln usw.) gibt es noch einen weiteren problematischen Aspekt: Es bleibt keine Zeit übrig für etwas Anderes. Etwas Anderes wie beispielsweise altruistische Tätigkeiten oder Aktivismus. Selbstverständlich würden die wenigsten Menschen von sich behaupten, sie würden sich in ihrer Freizeit lediglich vergnügen, sondern wohl betonen, dass sie auch Wichtiges und Gutes erschaffen würden. Andererseits handelt es sich bei solchen Aussagen häufig auch um leere Worthülsen wie wenn Leute beteuern, dass sie sowieso nur wenig Fleisch essen (auch wenn man sie jeden Mittag mit dem Chicken-Curry-Convenience-Food sieht) – und wenn, dann auch nur solches von Bauern, welche ihre Kühe noch beim Namen kennen. (Ganz ernsthaft: Fragt mal nach, wie denn die Kuh heisst, welche ihr da gleich verspeisen werdet... Es gibt praktisch keine Nutztiere mit Namen – auch ausserhalb der Massentierhaltung nicht.) Diese Selbsttäuschung findet sich auch auf wunderbar tragikomische Weise in der kürzlich ausgestrahlten „Sternstunde Philosophie“-Sendung „Du sollst dich optimieren!“ (leider nur noch bis Mitte Dezember 2017 online abrufbar), in welcher es um (körperliche) Selbstoptimierung ging. Dass da tatsächlich Leute das Gefühl haben, sie tun mit ihrem täglichen Workout der Welt etwas Gutes, ist fast so erschreckend wie die Vorstellung, dass Menschen auch heute noch glauben, dass die Erde nur 6000 Jahre alt ist oder der Klimawandel nicht existiert. (Diese Optimierungs-Dystopie kulminiert übrigens in der Aussage eines in der Sendung porträtierten „Workoutaholics“, welcher seine körperlichen Anstrengungen als Vorbereitung für den Alltag betrachtet; ein Alltag, in der „jeder Tag ein Kampf“ sei – egal ob in Beruf, Beziehung oder sonstwo...) Zurük zum Thema: Nein, ich spreche von Handlungen und Tätigkeiten, welche keinen immanenten, persönlichen Nutzen mit sich ziehen (oder zumindest nicht primär – um all den Altruismus-Skeptikern gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen), sondern bei welchen man sich für eine gute Sache einsetzt, wie beispielsweise in ein Asylzentrum zu gehen, um den Leuten dort, welche – im Gegensatz zu uns – fast immer komplett unterfordert sind, weil ihr Leben eine Art Allegorie des Wartens ist, einen schönen Tag zu bereiten. Oder auf Probleme in der Gesellschaft hinzuweisen und mit den Mitmenschen über mögliche Lösungsansätze zu diskutieren. Oder in sozialen Medien "Fake News" mit guten Argumenten und Studien zu widerlegen. Oder eine Petition zu starten, um einen gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben (siehe #NoFurX). Leider haben diese Dinge in unserer Gesellschaft einen vergleichbar kleinen Stellenwert, was dazu führt, dass entweder gar keine Veränderung eintritt – oder aller Aufwand sich auf den Rücken einiger Weniger stapelt. Denn: Wenn sich niemand für eine „bessere Welt“ einsetzt, wird auch nichts passieren. Nichts passiert einfach so, sondern ist praktisch immer der Arbeit einiger sehr aktiven Menschen und Organisationen zu verdanken. Klar kann (und sollte) man diese finanziell unterstützen, aber mit einer Spende lässt man jemand anderes die Arbeit erledigen und bleibt selber passiv, was nicht der Sinn der Sache (respektive meines Anliegens) ist. Was wir brauchen, ist endlich wieder eine Aktivismus-Kultur. So wie in den 60er Jahren, als grosse Teile des Frauenrechts etabliert wurden und die Diskriminierung von Minderheiten stark und auch äusserst erfolgreich bekämpft wurden; als die gefühlte halbe amerikanische Bevölkerung auf die Strasse gingen und sich mit Leidenschaft – der Begriff des Leidens deutet schon darauf hin, dass es mit einer kleinen Spende nicht getan sein kann (ironischerweise ganz im Sinne des Workout-Gebots "No pain, no gain") – für unterschiedliche gesellschaftliche Anliegen einsetzten. Wenn die Zivilgesellschaft damals so passiv gewesen wäre wie ein grosser Teil unserer Wohlstandsgesellschaft heute, dann hätten wir nun vermutlich viele dieser Errungenschaften nicht. Jetzt könnte man dem natürlich entgegnen, dass die Bevölkerung heute ja gerade aufgrund des damals in Gang gebrachten, gesellschaftlichen Fortschritts und dem dadurch entstandenen Luxus nicht mehr auf die Strasse geht oder gar gehen muss; dass ja heute bereits Vieles schon erreicht sei. Dies ist tatsächlich womöglich einer der Gründe, wieso der Aktivismus bei uns nicht mehr den gleichen Stellenwert hat wie in Teilen des letzten Jahrhunderts, als er eine regelrechte Blütezeit erlebte. Das Problem einer passiven Zivilgesellschaft ist, dass erstens gesellschaftlicher Fortschritt nicht definitiv und irreversibel ist, sondern jederzeit auch wieder rückgängig gemacht werden kann. So lässt sich beispielsweise erklären, weshalb heute wieder so viel Echtpelz gekauft und getragen wird, wie seit über 25 Jahren nicht mehr; weshalb Antisemitismus trotz den eigentlich eindeutigen Lektionen der beiden Weltkriege wieder am aufkeimen ist; oder wieso auch im 21. Jahrhundert so viele „Retropien“ (mehr Grenzen, mehr Disziplin, weniger Durchmischung, weniger Sozialstaat etc.) existieren. Zweitens ist diese Entwicklung hin zu einer gerechteren, leidfreieren Welt nie wirklich abgeschlossen – oder zumindest sind wir noch weit davon entfernt, dass wir uns nun auf unseren Lorbeeren (respektive jenen der Generationen vor uns) ausruhen könnten. Ein Beispiel dafür ist, dass Frauen in vielen Lebensbereichen immer noch deutlich benachteiligt sind und jeglicher Fortschritt in Richtung Gleichberechtigung der Geschlechter meist stark bekämpft wird. Man könnte sogar sagen, dass aktuell eine Art Neo-Sexismus grassiert, der sich beispielsweise in den wüsten und nicht gerade einfühlsamen Reaktion auf die #metoo-Erfahrungsberichte zahlreicher Frauen zeigte. Und drittens bedeutet unser persönlicher (i.e. westeuropäischer) Wohlstand nicht unbedingt, dass dieser Wohlstand global gesehen erreicht wurde – im Gegenteil. Ein grosser Teil unseres Reichtums basiert auf der Ausbeutung von Entwicklungsländern, der Natur und der nicht-menschlichen Lebewesen. Dies ist übrigens auch der Grund, wieso ich Altruismus für unabdingbar halte: Es gibt viele – ich nenne sie jetzt mal pauschal – „Minderheiten“, die sich alleine kaum wehren können (besonders jene, welche sich nicht in unserer oder gar einer menschlichen Sprache ausdrücken können). Wie sollen sich Kinder im Kongo wehren, wenn sie tagtäglich für unser aktuellstes Smartphones in Kupferminen steigen müssen, um Geld zum Überleben zu beschaffen? Und wie genau können sich Marderhunde, Nerze oder Polarfüchse aus den chinesischen, polnischen oder finnischen Pelzfarmen befreien ohne unsere Hilfe? Aus diesem Grund möchte ich mit diesem Beitrag die Mitmenschen auffordern, sich stärker aktivistisch und altruistisch in ihrer Freizeit zu betätigen – auch wenn man einerseits dabei kaum Geld verdienen kann und üblicherweise auch nur mässig Wertschätzung dafür erhält (zumindest steht die erhaltene Anerkennung nicht in Relation zum effektiv aufgebrachten Aufwand); und ich mir andererseits bewusst bin, dass solche Forderungen in einer Zeit, in der ein selbstbestimmtes Leben oberste Priorität zu haben scheint, nie so wirklich gut ankommen. Denn alleine können es ein paar wenige Aktivisten nicht richten – oder sie müssen dafür unglaublich viel Energie, finanzielle Ressourcen und Zeit aufwenden, um immerhin kleine Fortschritte zu erzielen. So habe ich einmal angefangen, mir die Zeit zu notieren, in welcher ich mich in meiner Freizeit ehrenamtlich auf irgendeine Weise engagiert habe – einfach aus reiner Neugier heraus. Darunter fallen logischerweise ganz unterschiedliche Aktivitäten, da es ja DEN einen Aktivismus nicht gibt (wie ich im Verlaufe des Beitrags bereits versucht habe auszuführen). Natürlich gab es bei mir im letzten Jahr aus aktivistischer Sicht ruhigere sowie hektischere Phasen (als Freelance-Aktivist kann man sich das Ganze ja zeitlich auch etwas besser einteilen); nichtsdestotrotz erreichte ich im Schnitt einen Wert von ungefähr 10 Stunden solcher Tätigkeiten – und zwar wöchentlich (deshalb also die im einleitenden Satz angesprochenen 1000 Franken, die mir zustehen würden, würde diese „Arbeitszeit“ tatsächlich gemäss dem Schweizer Mindestlohn ausbezahlt...). In den letzten Wochen erhöhte sich die Anzahl aufgewendeter Stunden sogar, da der Aktivismus im Rahmen meiner Online Petition #NoFurX extrem zeitintensiv war. So „arbeitete“ ich die letzten Wochen neben meiner beruflichen Tätigkeit als Lehrperson (mit einem Pensum von immerhin über 85%) ungefähr 20 Stunden die Woche für #NoFurX oder sonstige soziale oder ehrenamtliche Projekte. So etwas kann auf Dauer logischerweise nicht funktionieren (auch wenn man die aus dem "aktivistischen Flow" resultierenden Kräfte und Energiereserven durch diese sehr sinnstiftenden Tätigkeiten nicht unterschätzen darf). Wir brauchen deshalb „nachhaltige Aktivist*innen“, die auch die Fähigkeit besitzen, ihre Kräfte langfristig (i.e. über eine ganze Lebensspanne hinweg) einzuteilen und sich auch hin und wieder komplett vom weltverbesserndem Treiben abgrenzen zu können. Weitaus wichtiger ist jedoch das Fördern einer Aktivismus-Kultur im 21. Jahrhundert, denn wir brauchen schlicht eine grössere Masse an Menschen, die für gute Zwecke auf die Strasse gehen, sich gesellschaftskritisch äussern, über unangenehme oder polarisierende Themen ernsthaft diskutieren, sich politisch (nicht zwingend in der Politik selbst) engagieren oder in welcher Form auch immer Gutes bewirken. Dafür müssen wir jedoch unsere Work-Life-Balance umgestalten – oder besser gesagt: überhaupt erst eine Work-Life-Activism-Balance etablieren. Das wäre doch mal ein wirklich guter Vorsatz für's neue Jahr...
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