Vor ein paar Tagen habe ich mir ein Ticket für ein Musikfestival gekauft.
Allein diese Nachricht mag einige wohl überraschen und mutmassen lassen, ob ich angesichts der aktuellen Situation unglaublich optimistisch oder einfach komplett naiv bin. Es wird allerdings noch besser: Das Festival findet nämlich Ende Februar 2021 statt. ~ ~ ~ Das Festival nennt sich Ghostfestival und ist ein Festival, das nicht stattfindet. Man könnte es auch als stilles, solidarisches Kunstprojekt für die unter der Coronakrise besonders stark leidende Schweizer Musikindustrie bezeichnen. Um die aktuelle Krise soll es jedoch nur am Rande gehen, denn die Musikbranche ist schon seit langer Zeit am Leiden – oder gar am Sterben, wie einige Schwarzmaler*innen wohl sagen würden. Der Grund dafür ist allerdings nicht bloss das Internet und Streamingdienste. Auch wir tragen eine Mitschuld. ~ ~ ~ Jede*r mag Musik. Nein, ganz ernsthaft: Ich glaube nicht, dass mir jemals jemand über den Weg gelaufen wäre, der mir gesagt hätte, dass er oder sie in der Freizeit nie Musik hörte. Musik ist ein Teil unseres Lebens. Und jedes Individuum hat seinen oder ihren eigenen Soundtrack dazu. Umso erstaunlicher ist es, dass niemand wirklich dafür bezahlen möchte. Wie konnte es also dazu kommen, dass es einmal normal werden würde, dass man für Musik nichts mehr bezahlen muss? Und was sind die Folgen dieser Entwicklung? ~ ~ ~ Die erste Krise in der Musikbranche wurde durch das Internet herbeigeführt. Gemeinsam mit dem Existieren von digitalen Musikformaten wie MP3, M4A, WAV, FLAC usw. hat diese Entwicklung dazu geführt, dass man plötzlich Musik über Tauschplattformen mit anderen Menschen weltweit tauschen konnte. «Wieso für Musik bezahlen, wenn es auch gratis geht?» hat sich wohl die eine oder andere Person anfangs der 2000er Jahre mit dem Aufkommen von Musiktauschbörsen wie Napster & Co. gedacht. Anfangs konnte man gegen diese illegale Aneignung von Musik noch vorgehen, aber mit der Zeit musste die Musikbranche und deren Anwälte anerkennen, dass es ein Kampf gegen Windmühlen war: Hatte man die eine Seite gesperrt, spriess woanders eine neue Seite aus dem Boden. ~ ~ ~ Ein knappes Jahrzehnt später wurde hingegen bereits ein neues Zeitalter eingeläutet: Das Herunterladen von Musik war zwar irgendwie aufregend, weil man lange suchen musste und häufig noch länger warten musste, bis die langsame Internetverbindung das Album wirklich vollständig gespeichert hatte (es war ein bisschen wie eine Schatzsuche); aber es war eben auch mühsam. Als dann 2006 Spotify gegründet wurde und im Verlaufe der Jahre immer grösser wurde, vereinfachte dies die Angelegenheit natürlich und sowohl der Verkauf der physischen Datenträger wie auch die Anzahl Downloads von iTunes & Co. war noch deutlicher rückläufig als schon in den Jahren zuvor. Die Gründe liegen auf der Hand: Praktisch unlimitierte Auswahl an Musik, die jederzeit verfügbar ist und das für wenig oder kein Geld. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Zugriff auf 50 Millionen Songs (Stand: 2020) und das komplett kostenlos. Würde man dies Marvin Gaye, John Lennon oder Billie Holiday erzählen, sie würden sich alle im Grab umdrehen. Für viele von uns – besonders die Millenials – ist diese eigentlich unglaubliche Tatsache bereits normal geworden; man denke an andere kulturelle Bereiche wie die Filmindustrie (Stichwort Netflix). Und genau wie bei Netflix ist deshalb auch die Anzahl Nutzer*innen immer stärker gewachsen: 2020 verzeichnete Spotify knapp 300 Millionen Menschen, die den Dienst verwendeten (davon besitzen ungefähr 130 Millionen die Premium-Variante, welche für 10 Euro pro Monat erhältlich ist; also nicht mal die Hälfte des Preises, was eine einzige CD durchschnittlich kostet). ~ ~ ~ Man könnte nun denken, dass von diesen 7 Milliarden Dollar Umsatz, welche Spotify im Jahr 2019 gemacht haben, ein grosser Teil an die Künstler*innen selbst geht. Leider ist dies weit von der Realität entfernt. Gemäss diversen Berechnungen (unbedingt diese beeindruckende Grafik anschauen) muss eine Sängerin um die 450 Alben verkaufen, damit sie den Mindestlohn von 1260 Dollar erhielt. Mit iTunes müsste sie schon 100 Alben mehr verkaufen, damit sie auf den gleichen Lohn kommt. Schaut man nun einen Streamingdienst wie Spotify an, dann realisiert man, wie wenig Geld an die Künstler*innen fliesst und wie schwierig es geworden ist, damit schon nur mal einen Mindestlohn zu erhalten: Unsere fiktive Sängerin müsste dafür über eine Million Streams pro Monat generieren (einige Berechnungen sprechen sogar von deutlich mehr benötigten Streams). Lukrativ ist definitiv anders. Noch schlimmer wird es, wenn man Youtube betrachtet: 4'200'000 Klicks sind notwendig um läppische 1260 Dollar zu verdienen – und zwar jeden Monat. ~ ~ ~ Aber was bedeuten diese fehlenden Einnahmen denn eigentlich für die Musik, mag sich jetzt die eine oder andere Person fragen. Nun, es ist eine relativ einfache Gleichung: Weniger Einnahmen bedeuten weniger Möglichkeit für Ausgaben. Doch neben den Kosten für die Künstler*innen selbst (Lebesnunterhalt, Instrumente und deren Instandhaltung, Übungszeit usw.) müssen ja auch Plattenlabel, Manager, Songwriter, Producer usw. bezahlt werden. Anstatt also gross zu denken und aufwändige Projekte umzusetzen, gibt das kleine Budget den Ton an. Die Folge: Musik wie Deutschrap oder EDM schiessen aus dem Boden, weil sie relativ einfach herzustellen sind und daher wenig Kosten verursachen. Hingegen wird es schwieriger Musik zu produzieren, für welche beispielsweise Orchester, Chor oder Big Bands benötigt werden. Doch nicht nur die Anzahl Musiker*innen ist ausschlaggebend für die Kosten: Ein einfacheres Rap-Album kann man relativ gut zuhause aufnehmen. Beats kann man selber mit (kostenlosen) Apps wie Garageband machen – oder man verwendet bereits aufgenommene Beats aus dem Internet (teilweise sogar ebenfalls kostenlos). Natürlich ist der Qualitätsverlust auch in der Popmusik angekommen. Ein sogenanntes Phänomen sind Four-Chord-Songs, also Musikstücke, die aus lediglich vier sich wiederholenden Akkorden bestehen. Wer sich schon mal gefragt hat, wieso Grenade, Apologize, All Of Me, La Cintura, Wake Me Up, Faded, Read All About It oder 079 so ähnlich klingen: Sie beruhen alle auf dem gleichen Akkordschema (für die Musik-Nerds unter euch: vi – IV – I – V). Das ist natürlich praktisch, weil der Ohrwurm-Charakter garantiert ist und – noch wichtiger – Akkordfolgen nicht rechtlich geschützt sind (kann man also auch gratis verwenden). Das macht durchaus Sinn, denn sollte man Harmonien genauso wie Lyrics und Melodien (oder Melodiefragmente) unter Copyright stellen, könnte man bald keine neue Musik mehr machen – immerhin hat unsere (westliche) Musik nur 12 Töne, wobei von diesen Tönen nicht einmal alle in einer bestimmten Tonart verwendet werden können. Aber dieses musikalische Know-How ist ja sowieso nicht mehr so wichtig, weil die Musikprogramme ja die Hauptarbeit übernehmen. Im Gegensatz zu Piloten, die vermutlich wohl trotzdem im Ernstfall ihr Instrument (kein Witz, man nennt die elektronischen und mechanischen Geräte im Cockpit «Fluginstrumente») beherrschen könnten, findet man in den Charts heute Personen, die kaum musiktheoretisches Wissen besitzen oder ein Instrument spielen können. Dank externen Textschreiber*innen und Auto-Tune muss man eigentlich nicht mal mehr singen oder sonst irgendetwas besonders gut können. Man muss sich also einfach primär gut verkaufen können. Aus Kunst wird Marketing. ~ ~ ~ Eine weitere Folge dieses aus den fehlenden Einnahmen resultierenden Qualitätsverlusts ist auch die Monotonie in der Musik der Gegenwart. Weil alle die gleichen Akkordfolgen, die gleichen Samples und die gleichen Sounds verwenden, klingt alles irgendwie identisch, ein musikalischer Einheitsbrei. Klar, der eine Produzent verwendet ein bisschen mehr Hall, die andere Produzentin will etwas mehr Basstöne – aber letztendlich wollen sich die wenigsten zu weit aus dem Fenster lehnen. Experimentelle, mutige, kreative Musik wird daher immer weniger gespielt. Wenn es finanziell sowieso schwierig ist, setzt man lieber auf die sichere Seite, also auf jene der Massen und des Mainstreams. Aus diesem Grund müssen sich Albumproduktionen in weniger populären Genres wie Jazz, Klassik usw. auf Gelder von Kulturinstitutionen respektive vom Bund verlassen. Ohne Fördergelder geht da sonst kaum etwas. Zumindest nicht ohne Verluste. Klar, mit Tourneen und Merchandise kann man die Einnahmen noch ein bisschen nach oben drücken. Aber auch da wird es hart, wenn man nicht zu den Top Acts gehört, bei welchen Fans 100 Franken liegen lassen. Und nochmals: Was macht man, wenn dann plötzlich eine Pandemie Tourneen und Konzerte verunmöglicht – und zwar über ein Jahr lang? ~ ~ ~ Jetzt mag man vielleicht denken «Okay, aber Streaming bietet ja auch viel Praktisches… Zum Beispiel kann man einfacher berühmt werden, oder?» Leider ist dem eher nicht so (oder mit den Worten von Baze: «Ender Weniger»). Denn man muss bedenken, dass diese Idee ganz viele Menschen haben. Klar gibt es ein paar wenige Leute, die Millionen Klicks auf Youtube generieren, aber es gibt eben auch Millionen, die lediglich ein paar wenige Klicks erhalten. Die grössten Vorteile von Streaming sind vor allem den Konsument*innen vorbehalten: Günstig, praktisch, schnell, vielfältig. Der Kunde oder die Kundin ist hier wirklich König respektive Königin. Wer der Untertan ist, liegt wohl mittlerweile auf der Hand. ~ ~ ~ Und da die Kundschaft nach immer Neuem schreit, bleibt auch kaum Zeit, um mal die eigene musikalische Karriere zu reflektieren und bewusst (und vor allem authentisch!) neue Wege einzuschlagen. Wenn man eine Band wie Radiohead anschaut, dann sieht man da eine Evolution in der Musik, die nicht von Marketing-Abteilungen gefordert wurde, sondern intrinsisch entstanden ist. Aber dafür braucht es Zeit. Diese Zeit wird heute weniger gewährt, weshalb viele Bands oder Künstler*innen mehr an Singles interessiert sind, die einfach möglichst heftig einschlagen sollen. Das Konzept eines Albums wird über den Haufen geworfen. Man kann sich das ungefähr so vorstellen, als würde man bei einem Film auf den roten Faden und einen kohärenten Aufbau – sorry – scheissen und stattdessen einfach eine Action-Szene nach der andern aneinanderreihen. Oder man pickt im Film einfach nur die spannendste Szene heraus – egal, ob die jetzt besonders dramatisch, gewalttätig oder erotisch ist. (Der Vergleich mit Sexvideos ist bewusst gewählt: Auch dort wird in der Regel einfach nur die «Action» gezeigt; eine Charakterentwicklung oder einen Plot-Twist findet man auf Pornoseiten wohl eher weniger.) Wenn man hingegen die Musik der letzten 50, 60 Jahre genauer betrachtet, dann muss man sagen, dass die wichtigsten Werke der Musikgeschichte diejenigen Alben sind, die eine besonders schöne Dramaturgie besitzen. Wenn wir bei der Band oben bleiben: Ein Album wie «OK Computer» von Radiohead besticht auch durch den roten Faden, der sich durch alle Songs zieht. Im besten Fall erkennt man darin sogar eine Art Fünf-Akt-Struktur, wie man es von Shakespeare und klassischen Theaterwerken kennt. (Fun Fact: Das Stück «Exit Music (For A Film)» (LINK) auf dem Album «OK Computer» wurde für den 1996-erschienen Film «Romeo & Juliet» verwendet. Und dieses Stück ist ein Werk von … ? Genau!) Spotify, iTunes, Youtube und Co. haben jedoch dazu geführt, dass man vermehrt nur die Hits eines Albums hört/kauft (wenn es denn überhaupt ein solches gibt) und so die strukturellen Meta-Überlegungen der Künstler*innen kaum mehr wahrnimmt (wenn diese denn überhaupt vorhanden sind). ~ ~ ~ Dass all diese Entwicklungen natürlich die Attraktivität des Berufs Musiker*in senken, liegt auf der Hand: Klar, musizierende Menschen wird es weiterhin geben, aber wer hauptberuflich mit Musik Geld verdienen möchte, hat es immer schwerer. So erstaunt es nicht, dass die meisten Musiker*innen, die ich kenne, einen grossen Teil ihres monatlichen Gehalts woanders verdienen (häufig als Instrumental- und Musik-Lehrpersonen). Doch nicht nur das Ansehen an diesem Berufsstand nimmt ab: Auch die Wertschätzung an der Musik selber leidet darunter. Ein Beispiel: Nehmen wir zum Beispiel einen Latte Macchiatto mit Sojamilch bei Starbucks; dieser kostet wohl so um die 7 Franken (da ich kein Kunde mehr bin, kann ich es nur abschätzen, sorry). Eine Gaumenfreude, die vielleicht sieben Minuten anhält. Im Vergleich dazu kostet ein Musikstück, das – wenn es qualitativ hochwertig ist – individuelles üben, gemeinsames proben, Studiokosten, Plattenlabel, Abmischen, Mastering, CD-Produktion, SUISA-Abgaben etc. pp. beinhaltet, nur gerade mal 1.90 Franken auf iTunes. Und dieses Stück hat man theoretisch das Leben lang. Und trotzdem fällt es uns viel schwieriger, für Musik zu zahlen als ein Getränk in einem Café zu bestellen. Man könnte sich auch folgendes Gedankenexperiment vorstellen: Hätte man eine Shopping- oder Flugreise-«All You Can Buy»-Karte, wie dies de facto bei Spotify und Netflix der Fall ist, dann würde nicht nur der Konsum massiv zunehmen (ein ökologisches Desaster!), sondern das einzelne Kleidungsstück und die einzelne Flugreise würde an Wert verlieren. Immerhin kann man ja bei einem verpassten Flug oder einem beschädigten Mantel einfach eine neue buchen oder einen neuen kaufen. ~ ~ ~ Die Frage, die sich wohl die eine oder andere Person stellt: Gibt es denn irgendeine Lösung für dieses Problem? Irgendeinen Hoffnungsschimmer vielleicht? Leider habe ich auch nicht DIE Antwort parat. Ich persönlich höre viel Musik via Youtube an, kaufe mir aber die wirklich gute Musik via iTunes oder cede.ch - übrigens ein Unternehmen aus Winterthur. Während die CD mehr ein Stück Erinnerung ist und das menschliche Bedürfnis des Sammelns und Besitzens befriedigt, ist der iTunes Kauf mehr eine emotionslose, aber wertschätzende Transaktion (obwohl ich sagen muss, dass sie auch einen praktischen Zweck hat, da ich noch einen alten iPod besitze). Auch der Kauf von Vinyl-Platten geht in die gleiche Richtung: Für die Künstler*innen und deren Portemonnaie sicherlich erfreulich, aber in der heutigen Zeit nicht unbedingt massentauglich. Eine weitere mögliche Entwicklung wird wohl ein noch stärkeres Auftreten von Crowdfunding-Projekten sein. So kann jede Person das ihr am meisten entsprechende Goodie erhalten: Einige wollen vielleicht die CD, andere einen Sticker, jemand ein T-Shirt und irgendjemand ein exklusives Dankesvideo. Ausserdem wäre es meiner Meinung nach eine sinnvolle Idee, «Tip Me»-Funktionen in Streamingdienste einzubauen. Dieses Prinzip gibt es zum Beispiel bei der Fair Fashion Schuhmarke «ethletic», bei welcher man im virtuellen Warenkorb den Textilarbeiter*innen in Bangladesh & Co. ein zusätzliches Trinkgeld von 1 bis 5 Franken übermitteln kann. Ein solcher Button könnte man auch bei Spotify hinzufügen, so dass man einfach und schnell (die Kreditkarte ist ja in der Regel schon gespeichert) seinen Herzenskünstler*innen ein finanziellen Dankeschön übermitteln könnte. Und natürlich müssten auch Youtube, Spotify & Co. mehr Geld ihrer Einnahmen an die Musikindustrie weiterleiten. Am Schluss muss aber jede musikliebende Person eben auch selber Verantwortung übernehmen und anfangen, die Musik wieder als Kunst- und Kulturgut wahrzunehmen, das einen Wert und dementsprechend auch einen Preis besitzt. Wer dies begriffen hat, wird sogar für ein Ghost-Festival ohne Musik gerne Geld ausgeben. Lang lebe die Musik!
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