Lange Zeit bildeten Gebote das moralische Fundament unserer Gesellschaft. Einige dieser (teils christlichen, teils säkularen) Gebote sind heute noch aktuell, ohne jedoch absolute Gültigkeit zu haben („Du sollst nicht töten“ ist angesichts der Waffenexporte in Kriegsgebiete, Auslagerungen von Elektroschrott und Giftmüll nach Afrika, der Massentierhaltung oder der Pelzindustrie wohl nicht sehr ernst zu nehmen), während andere im 21. Jahrhundert nur noch lächerlich wirken („Du sollst dir kein Gottesbild machen“).
Wenn nun aber die Mehrheit dieser Gebote vor mehreren Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden geschrieben wurde, wie steht es denn eigentlich um die Existenz oder Etablierung zeitgemässer Gebote? Hinsichtlich der Digitalisierung ist es sicherlich notwendig, uns auch Gedanken zu unserem angestrebten virtuellen Handeln zu machen. In erster Linie ist diese Forderung damit zu rechtfertigen, dass wir immer mehr Zeit online verbringen. Dadurch findet auch ein grosser Teil der politischen Bildung oder der gesellschaftlichen Aufklärung in den sozialen Medien statt. Wie leicht man sich dabei in sogenannten „Filter Bubbles“ verlieren kann, sollte mittlerweile jedem bekannt sein, der sich mit dem Thema „Social Media“ beschäftigt hat. Aus diesem Grund möchte ich hier und heute ein neues, digitales Gebot konstituieren: Das Gebot des Gegenkommentierens. Üblicherweise wird man ja leicht belächelt (und häufig ignoriert), wenn man sich in einen mehr oder weniger hitzigen Wortwechsel bei der Kommentarspalte eines Beitrags verwickelt. Die passiven Zuschauer dieser Szenerie erklären dann immer, dass so etwas ja sowieso nichts bringe und dass es sich bei einer solchen Tätigkeit bloss um verschwendete Zeit handle. Aber ist dem wirklich so? Wenn ich einen Online-Artikel sehe und diesen auf irgendeine Weise spannend, anregend oder irritierend finde, dann weicht mein Blick automatisch (teilweise sogar vor dem effektiven Lesen) auf die darunter entstehenden Diskussionen – und ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht nur mir so geht. Dort angelangt scanne ich mich dann durch die Kommentare und schaue vor allem auch darauf, welche Reaktionen am meisten Likes ausgelöst haben. Wenn man jetzt nur einseitige Kommentare vorfindet, kriegt man schnell das Gefühl, es gebe ja nur eine einzige valide Meinung zu dem Thema, ergo werden abweichende Haltungen je nachdem schnell als inakzeptabel oder falsch abgetan. Besonders Personen, die es nicht gewohnt sind, Angelegenheiten aus möglichst vielen unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, treten häufig in diese „Filter Bubble“-Falle. Obwohl es natürlich sehr selten Themen gibt, die komplett unbestritten sind (selbst in Bereichen, bei welchen eigentlich Konsens bestehen müsste – zum Beispiel bei der Steinigung von Ungläubigen –, gibt es immer irgendwelche Leute, die dem Ganzen noch etwas Positives abgewinnen zu versuchen), findet man trotzdem häufig sehr einseitige Meinungen in den Kommentarspalten vor. Besonders wenn es Lebensbereiche tangiert, die (noch) nicht gesellschaftskonform sind. Im Rahmen von gesellschaftlich abweichenden Ernährungsweisen (z.B. Veganismus) tritt dieser einseitige mediale Shitstorm beispielsweise häufig auf. Offenbar sind vegan lebende Menschen ein gefundenes Fressen für all die WutbürgerInnen da draussen. Womöglich entlädt sich bei deren „pfefferscharfen“ Wortsalven einfach grundsätzlich mal ein allgemeiner Frust und Hass auf die nächstbeste Minderheit – in diesem Fall jetzt die Vegis. Die Juden sind ja für viele Menschen immer noch unantastbar (obwohl sich diese Holocaust-Sensibilität leider langsam auch aufweicht) und das "N-Wort" sollte man ja auch nicht mehr sagen. Also trifft's halt Muslime, Flüchtlinge, Veganer, Gutmenschen oder das Öko-Gesindel. Interessant ist dabei übrigens auch, dass man nicht einmal gross in die Trickkiste greifen muss, um den – Achtung: Wortspiel – Groll der Trolle zu spüren: Als ich einmal bei einem Artikel über vegan erziehende Eltern (übrigens gibt's davon aktuell wohl ungefähr so viele, wie effektive Burka-Trägerinnen in der Schweiz; aber Hauptsache Panikmache) anmerkte, dass die Regenwälder des Amazonas um bis zu 91% auf Kosten der Sojakraftfutterproduktion respektive der Nutztierhaltung (i.e. Fleisch, Milch, Käse, Eier etc.) gerodet werden, wurde ich mit Dislikes regelrecht überhäuft. Dabei habe ich nur eine statistisch erwiesene Zahl genannt, um zu zeigen, dass es womöglich schon gute Gründe geben könnte, sich vegan(er) zu ernähren. Offenbar gab es aber unter den Kommentierenden eine beachtliche Anzahl Personen, die einfach ihre negativen Ressentiments in die Welt schreien wollten – komme(ntiere) was wolle. Für mich persönlich waren (und sind) solche Wut-Kommentare keine grosse Sache, weil ich mir diesen ruppigen Ton in meist irrationalen Diskussionen mittlerweile gewohnt bin (beispielsweise beim aktuell mal wieder aufkeimenden Thema „Kirchenglocken“). Aber die Mitlesenden und Mitkommentierenden fühlen sich durch die Konformität der Kommentare bestärkt und verfestigen dadurch ihr Bild. Deshalb ist es geradezu essenziell mit schlagfertigen Kommentaren entgegenzuhalten und schlechte Argumente sowie irrationale Logik zu entlarven – ich nenne diesen Akt gerne „Positive Trolling“. Auch dazu möchte ich ein kurzes Beispiel geben: Kürzlich betonte jemand bei einem Austausch über die Vor- und Nachteile von Pelz, dass jede Person, die Leder trage oder Fleisch esse, niemanden kritisieren dürfe. Das ist natürlich insofern absurd, als dass damit impliziert wird, dass man nur Kritik ausüben dürfe, wenn man eine wahrhaftig weisse Weste trage. In einer globalisierten Welt, in der wir leben, ist dies selbstverständlich praktisch unmöglich, weshalb also jegliche Kritik illegitim wäre und alle tun dürften, was sie wollen. Als ich also diesen psychologischen Trick meines virtuellen Gegenübers demaskierte und ergänzte, dass man ja irgendwo – beispielsweise eben bei der grausamen und vollkommen unnötigen Pelzindustrie – anfangen müsse mit dem Kampf für eine gerechtere, leidfreiere Welt, und ich ihm ausserdem zustimmen würde bezüglich der Problematik von Leder und Fleisch; da machte der Herr eine vorzügliche Kehrtwende und belächelte meine mit ihm geteilte Fleisch- und Lederkritik plötzlich – auch wenn diese ja zunächst von ihm selbst kam. Darauf fügte er an, dass er nun der digitalen Diskussion den Rücken kehre, um genüsslich ein Steak zu verzehren. Ein Trump-Move par excellence. Nichtsdestotrotz (oder besser gesagt: trotz des Trolls Trotz – um bei einer spielerischen Sprache zu bleiben) konnten durch dieses Gegenkommentieren schwache Argumente und die fehlende Logik jener Person entlarvt werden, die beim 20-Minuten-Onlineartikel über scheinbar „nachhaltigen“ Pelz von Rotfüchsen aus der Schweiz am meisten (!) Likes einheimste. Natürlich haben einige Leute diesen "Sieg" wohl kaum wahrgenommen, da sie nicht auf eine möglichst vernunftbasierte Argumentationsführung achten, sondern einfach auf die höchste Masse an Bullshit pro verwendeter Pixel. Diese Unbelehrbaren sind aber nur ein kleiner Teil der Gesellschaft, so dass die Mehrheit der LeserInnen beim oben beschriebenen Szenario statt vermeintlicher Vernunft bloss eine kindliche Trotzreaktion erkennen. Und die Meinung einer erwachsenen Person, die wie bei einer Brandydog-Niederlage stampfend den Raum verlässt und dazu „Ihr könnt mich alle mal!“ in den Raum ruft, wirkt nun nicht gerade sonderlich überzeugend. Beim „Positive Trolling“ geht es also nicht um die Fundamentalisten und Dogmatiker, die sich jeglichen Argumenten verwehren, sondern um die „Swing Voters“ (um beim Trump'schen Phänomen zu bleiben). Wenn ich also jene Leute von einer (ethisch/ökologisch/rational) besseren Alternative überzeugen und damit der Gesellschaft, der Umwelt oder unterdrückten (nicht-)menschlichen Lebewesen etwas Gutes tun kann, ist es nicht meine Pflicht, diesem Gebot zu folgen – oder zumindest mit Likes die überzeugendsten WortführerInnen zu unterstützen? Auch wenn das (Gegen)Kommentieren regelmässig als Beschäftigung für Hobbylose gewertet wird, geht es dabei um viel mehr. Dies sind – um es etwas pathetisch und mit der Eloquenz einer motivierenden Kampfansage eines mittelalterlichen Ritterfilms zu sagen – die Schlachtfelder unserer Zeit; und schlüssige, überzeugende Argumente unsere Waffen. Natürlich gibt es noch genug reale Schlachtfelder auf der Welt; wer aber glaubt, diese haben mit den digitalen Wortgefechten nichts zu tun, hat nichts begriffen. Viele dieser globalen oder lokalen Probleme sind zwar relativ komplex, aber häufig liegen (unbekannte) Alternativen oder (unbeliebte) Kompromisse auf der Hand. Um diesen gesellschaftlichen Fortschritt jedoch zu fördern, müssen wir allerdings unsere wohligen Filterblasen hin und wieder platzen lassen, um die Bastion des Gegners einzunehmen (oder wer sich – wie ich selbst – am militärischen Jargon dieses Abschnitts stört: Um die Mitglieder einer Gesellschaft aufzuklären und zu bilden). Deshalb brauchen wir ein Gebot des Gegenkommentierens. Ob es allerdings noch zeitgemäss ist, dies in schwere Steintafeln zu meisseln, sei jetzt mal dahingestellt. Vielleicht versuche ich besser dieses Gebot durch einen Blogbeitrag zu etablieren. Da kann man immerhin noch herrlich gegenkommentieren – wenn man denn wollte.
3 Comments
It is with a heavy heart
That I have to inform you That you were right All along No, it's not About your Bollywood movies Which are terribly corny And I can't bear to watch them For more than ten minutes No, I'm talking Of course About your tradition In vegetarian eating Yes, it may seem From the outside That meat Equals prosperity Here In Europe But in fact It is only on cost Of the well-being Of the non-human beings We screwed up Big time We created huge factories To imprison animals Or livestock As we now call them We give them antibiotics Not because we care But because we want To prevent economic loss We feed them special food To make them big And dead In no time And for what? For nothing more than Taste Tradition Satisfaction Ourselves You However Have shown empathy For many centuries Almost half of your population Used to avoid Killing creatures Just to eat them But the times They are a-changin' And you look Towards the west Towards the wealth When it should've been us To have learnt from you So Keep your spirits up And we shall follow With reason And empathy To give them rights And To free them At last |
SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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