Eines der grösseren und problematischeren Missverständnisse unserer Zeit ist die häufig vertretene These, dass die Mehrzahl unserer Handlungen und Entscheidungen - besonders im Bereich des Konsums - rein persönlicher Natur sind. Zugegebenermassen wäre es recht schön, wenn dem wirklich so wäre; denn dann müssten wir uns massiv weniger Gedanken über unser Handeln und die Auswirkungen auf unsere (Um)Welt machen. Aber genauso wie beispielsweise eine Mauer langfristig keine Probleme lösen wird (egal, ob man sie jetzt an der Grenze zu Mexiko oder entlang der Flüchtlingsrouten irgendwo in Europa errichtet), so ist leider auch der Sachverhalt bei anderen Entscheidungen meist verzwickter, da viele unserer Handlungen in ein komplexes, globales Geflecht von Korrelationen eingebettet sind. Trotzdem wird diese These noch sehr häufig proklamiert, ohne offenbar gross hinterfragt zu werden. Dies ist mir kürzlich mal wieder bei einer Online-Diskussion aufgefallen, bei welcher man abstimmen konnte, ob Veganismus „Super“ oder „Schwachsinn“ sei (nicht zum ersten Mal hat es der „Blick“ geschafft, zwei Gruppierungen mit seiner kaum wertneutralen Sprache gegeneinander aufzuhetzen und damit negative Ressentiments innerhalb der Gesellschaft zu fördern, herzliche Gratulation!). Aber auch bereits bei den zahlreichen Pelz-Diskussionen im letzten Winter kam das Argument des „persönlichen Entscheids“ regelmässig hervorgeschossen – häufig in Verbindung mit der Forderung zu mehr Toleranz hinsichtlich solcher individueller Entscheidungen. Nun liegt eigentlich schon hier der erste Denkfehler begraben. Denn es muss und darf nicht alles toleriert werden. Endlose Toleranz ist mitnichten ein erstrebenswertes Ziel, sondern kulminiert lediglich in Indifferenz; also einer Gleichgültigkeit, die einfach alles zulässt, egal wie fragwürdig oder verwerflich eine Handlung sein möge. Dass wir es beispielsweise nicht tolerieren sollten, wenn jemand sein Kind auf offener Strasse verprügelt, damit scheinen die meisten MitbürgerInnen wohl einverstanden zu sein. Immerhin tangiert dieser persönliche Entscheid des Vaters oder der Mutter ja das physische und psychische Wohlbefinden des Kindes. Ebenso würden mir wohl fast alle zustimmen, dass ich meine Katzen nicht in einem gläsernen Terrarium im Wohnzimmer oder in einer kleinen Holzkiste auf dem Balkon halten dürfte. Würde dies bekannt werden, gäbe es in meinem sozialen Umfeld wohl einen ziemlich grossen Aufschrei – und das ist ja auch gut so. Wenn sich jedoch jemand dafür entscheidet, einen Pelz-Kragen zu tragen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit (ca. 85%) von einem Tier stammt, welches es noch um ein Vielfaches elender hatte als die Katzen in meiner fiktiven Situation (Gitterkäfige so gross wie knapp zwei A3-Blätter, wenig Schutz vor Kälte und Wind, Futtertrog praktisch neben Fäkalien etc.), dann muss doch dieser (Kauf)Entscheid auch irgendwie hinterfragt, kritisiert und womöglich gar verhindert werden. Wieso wir die beiden sehr ähnlichen Fälle gefühlstechnisch dennoch unterschiedlich wahrnehmen, hat in erster Linie wohl damit zu tun, dass das entsprechende Tierleid der Pelzkapuze im Verborgenen liegt respektive durch zahlreiche Zwischenschritte kaschiert wird, so dass man beim Beobachten des Endprodukts die Qualen der Nerze, Polarfüchse, Marderhunde oder Kojoten schon wieder vergessen hat. Beim Fleischkonsum genau das Gleiche: Wir haben das Gefühl, dass der Entscheid, „was“ man isst, ein sehr subjektiver und persönlicher ist, da man ja bloss ein eingepacktes Stück „Nahrung“ kauft und nicht ein totes Rind, welches nach knapp 20 Monaten (umgerechnet entspräche das übrigens einem Kind in der ersten Klasse, wenn man die Lebenserwartung einer Kuh mit einberechnet) geschlachtet wurde. Das Verschleiern der unbequemen Wahrheit und die damit entstehende gefühlsmässige Abstrahierung erleichtert uns so den Entscheid eine Handlung zu vollführen, welche wir zumindest nicht mit einer solchen Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit unterstützen würden, wären wir bei allen Stationen im Leben (und Sterben) dieses nicht-menschlichen Lebewesens sowie dabei gewesen. Natürlich gibt es noch zahlreiche weitere Beispiele von scheinbar persönlichen Entscheiden wie der Kauf von Dosenbach-Schuhen für knapp 30 Franken, bei welchen wir uns die beschwerlichen und mit Leid verbundenen Produktionsprozesse häufig auch nicht vorstellen können oder wollen. Oder das exzessive Reiseverhalten (siehe Beitrag „Flugentzug“), welches uns mittel- und langfristig grosse ökologische und gesellschaftliche Probleme bereiten wird. Nun mag sich die eine oder andere Person (zu Recht!) fragen, wo man denn die Grenzen ziehen möge zwischen Entscheidungen, deren Reichweite beschränkt und annehmbar sind, und solchen Handlungen, die durch negative Auswirkungen diskutiert, eingeschränkt oder gar verboten werden sollten. Die zugegebenermassen vage Antwort auf diese Frage müsste wohl auf folgender Überlegung basieren: Wie fest tangiert meine Entscheidung, mein Verhalten die Freiheit oder das Wohlbefinden anderer Personen oder Lebewesen? Wenn wir diese Fragestellung auf gewisse Sachverhalte anwenden, dann sollten wir feststellen, dass beispielsweise der oben-beschriebene Fleischkonsum in der Regel hinsichtlich ethischer, ökologischer sowie ökonomischer Punkten höchst fragwürdig ist (siehe aufgeführte Argumente beim „Blick“-Beitrag zum Thema „Veganismus“). Hingegen ist der Entscheid, sich die Haare anders zu schneiden eine durch und durch persönliche Entscheidung, welche maximal den Freund oder die Freundin irritieren könnte. Ebenso ist es (aus ethischer Sicht) praktisch irrelevant, ob jemand lieber bunte Kleider in Batik-Optik oder einen „All black“-Style mag (im Gegensatz zum Kauf eines Fairtrade/Bio-Shirts anstelle eines Primark-Billigprodukts); ob jemand lieber Eishockey, Tennis oder Fussball schaut (oder weder noch); ob jemand bevorzugt im Berner Oberland oder im Wallis Skifahren geht (solange man als Walliser nicht gerade nach Kitzbühl fährt); ob jemand abends lieber ein Buch liest, mit Freunden in eine Bar geht, das Fasnachtstreiben verfolgt oder doch eher an seinem Blogbeitrag feilt; ob jemand eher den Nordischen Typ II oder den Dunklen Hauttyp V bevorzugt (oder die ganze Klassifizierung der Hauttypen gemäss Fitzpatrick komplett unnötig findet); oder ob jemand lieber mit einer Frau oder einem Mann (oder beidem) den Beischlaf vollziehen möchte (allerdings handelt es sich bei solchen Neigungen ja nicht um bewusste Entscheide, die man irgendwie steuern könnte; aber ich wollte trotzdem mal wieder mit einem Pro-LGBT-Votum abschliessen). Wie man leicht sehen kann, gibt es also Tausende von Entscheidungen, die tatsächlich ganz und gar „persönlicher Natur“ sind und weder ethisch, ökologisch noch sonst wie bedenklich wären. Hier müssen wir Meinungsverschiedenheiten aushalten und respektieren können. Gleichzeitig gibt es aber eben auch viele Handlungen (besonders im Bereich des Konsumverhaltens), welche unhinterfragt ausgeführt werden, obschon sie die Handlungsfreiheit anderer (nicht-)menschlicher Lebewesen teilweise massiv beschränken oder deren Lebensqualität drastisch verringern, und daher aus utilitaristischer Sicht eigentlich kaum tragbar sind. Dass es nicht einfach sein wird und einiger Geduld bedarf, solche Verhaltensweisen zu ändern, liegt auf der Hand. Dass es dabei zu vielen (teilweise hitzigen) Diskussionen kommen wird, wie im oben-erwähnten „Blick“-Artikel, ebenso. Aber vielleicht müssen wir auch einfach lernen, kritikfähiger zu werden und selbstkritischer zu denken, so dass wir mit etwas Übung immer müheloser abwägen können, inwiefern unser Handeln Probleme und Leid verursacht; damit die Sache mit dem persönlichen Entscheid nicht bloss ein ziemlich abstruser Mythos bleibt. Dieser Text ist übrigens der veganen Community in Stuttgart gewidmet, welche mit grossem Engagement und noch grösserer Leidenschaft beim "Blick"-Artikel mitkommentiert hat. ;-)
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