Keine Angst. Mit diesem Blogpost bezwecke ich nicht (oder: nicht nur), mich einfach über die berühmt-berüchtigte Dating App lustig zu machen – das wäre auch viel zu einfach. Stattdessen möchte ich lieber einige Überlegungen zu Tinder anstellen und auch Chancen dieser Anwendung aufzeigen, welche unsere Popkultur, unsere Gesellschaft und natürlich unser Liebesleben in den letzten Jahren sehr stärk geprägt hat.
Ein Grund für diesen grossen Einfluss auf unser Leben ist sicherlich die Anzahl Mitglieder*innen bei Tinder: 4. 1 Millionen zahlende Mitglieder sind insgesamt registriert (Stand Herbst 2018). Das ist vor allem auch deshalb ziemlich beachtlich, weil man bedenken muss, dass die meisten User die App ohne zu bezahlen nutzen. Deshalb geht man davon aus, dass weltweit über 100 Millionen Menschen Tinder aktiv nutzen. Der zweite Grund für den Erfolg der App ist die Einfachheit in der Handhabung (das bekannte Swipe-System: Rechts für „Ja!“, links für „Nein!“) sowie die Einfachheit in der Präsentierung der Profile (statt lange Texte schreiben und lesen zu „müssen“, gibt es eine totale Reduktion auf [retouchierte] Optik). Dieser Fokus auf das Oberflächliche widerspiegelt natürlich gewissermassen auch (einen Teil) unserer Gesellschaft, die sich am Motto „Schnellebigkeit statt Loyalität“ und „Schein ist wichtiger als Realität“ orientiert. Es lebe die digitale Lüge! Allerdings hat mich die Oberflächlichkeit gar nicht mal so gross schockiert, als ich vor einigen Wochen die App zum ersten Mal installierte – womöglich weil ich diese als Millenial ohnehin gewohnt bin oder ich mir keine sonderlich grossen Hoffnungen von Tinder machte. Immerhin hatte ich schon Online-Dating-App-Erfahrungen mit OKCupid gesammelt. Eine App, die ich übrigens grundsätzlich deutlich sympathischer finde, da man dort hunderte Fragen beantworten und je nach individueller Bedeutung gewichten kann; woraus dann ein Algorythmus eine Match-Wahrscheinlichkeit ableitet (wobei die maximale Match-Punktzahl von 99% sehr selten erreicht wird und meiner Erfahrung nach auch nicht wirklich ein Grund wäre, schon prophylaktisch einen Verlobungsring zu kaufen). Nein, für mich war eher das Verlassen meiner Social Bubble das Schockierendste am ganzen Experiment. Während man nämlich auf OKCupid mehrheitlich alternative, progressive Menschen findet und mein „analoger Freundeskreis“ sowieso vorwiegend aus Gutmenschen besteht, begegnete ich auf meiner digitalen Reise durch das Tinder-Universum (Beginn: Mitte Februar 2019, Ende: unklar resp. absehbar) unheimlich vielen Frauen (als Hetero-Mann habe ich halt nur Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht gemacht #NoSexismIntended), welche mit Snapchat-verzierten, Duckface-machenden Gif-Animationen oder Gym- und Reisefotos Aufmerksamkeit erlangen wollten. Von einem sympathischen und tiefgründigen Selbstbeschrieb fehlte bei gefühlten 85 Prozent aller Tinder-Konten jegliche Spur. (Der Vollständigkeit halber möchte ich betonen, dass es natürlich auch einige durchaus sympathische Profile und spannende Persönlichkeiten gab.) Dass ich jedoch mit meiner Vorliebe für Philosophie, Aktivismus, Politik, Kunst und Kultur eher alleine auf weiter Flur stand (und stehe), merkte ich besonders bei den sogenannten Top-Picks. Das sind Profile, welche besonders viel Aufmerksamkeit und Likes generierten und bei welchen man bloss einmal alle 24 Stunden jemanden liken kann. In der Regel konnte ich mich jedoch gar nie entscheiden – nicht etwa, weil mich alle Kandidatinnen gleichermassen umhauten, sondern weil praktisch alle in ihrer Pseudo-Individualität genau gleich aussahen:
Dass solche Dating-Plattformen ausserdem dafür sorgen, dass man Menschen weniger als solche wahrnimmt und sie stattdessen zu Objekten macht oder auf einzelne Merkmale degradiert (betrifft übrigens nicht nur Frauen; Stichwort: Mindestgrösse: 1'80m), liegt auch in der Sache der Anonymität und scheinbar unendlichen Auswahl – immerhin könnte hinter jedem Swipe womöglich ein noch besserer Match lauern. Aus dieser Erkenntnis resultiert das fehlende Interesse oder gar die Unfähigkeit, sich auf eine Person wirklich einzulassen und stattdessen erfolglos weiterzusuchen. Daraus entsteht dann widerum Frustration, welche sich im weiteren Dating-Verhalten zeigt. Dieser Unmut nimmt eine geradezu permanente Form bei jenen Individuen an, die nicht der „gängigen“ Definition von Schönheit entsprechen und vielleicht mit anderen Qualitäten wie starken Persönlichkeiten, Intelligenz oder Empathie punkten könnten. Wenn die Liste nicht ganz so lange wäre, würde man wohl dem Individuum mehr Gewicht und Interesse geben; bei Tausenden anderen Kandidat*innen bleibt dafür jedoch keine Zeit. The Swipe must go on! Auch viele Männer sind übrigens frustriert, weil die attraktivsten Geschlechtergenossen die Matches geradezu horten, während viele unscheinbare Typen zu kurz kommen. So reproduziert sich ein negatives Dating-Verhalten, welches wir natürlich auch in einer Bar beobachten könnten: Das männliche Geschlecht wird weniger wählerisch und winkt tendenziell Frauen mal durch, während jene als Reaktion auf die zahlreichen Anfragen noch sorgfältiger mit ihren positiven Swipes umgehen. Diese Asymmetrie auf Dating-Plattformen wie Tinder ist sicher nicht der einzige Grund für das gegenwärtige „Incel“-Phänomen, aber begünstigt diese Entwicklung sicher und führt zu einer neuen Welle von Sexismus (welcher natürlich [berechtigterweise] zu einer heftigen Gegenreaktion seitens der Feminist*innen führt). In einem gewissen Masse könnte man also behaupten, dass Tinder und Co. die Geschlechter spaltet, Oberflächlichkeit fördert, Vertrauen missbraucht, Sexismus begünstigt und mehr Frustration als Freude verursacht. Nun könnte ich ja angesichts dieser Erfahrungen eigentlich gleich das Handtuch werfen und die Hoffnung in die Liebe im 21. Jahrhundert (oder gar in die Menschheit generell) verlieren – besonders weil mir meine Kolleginnen von nicht minder fürchterlichen Profilen des männlichen Geschlechts erzählten. Wäre da nicht mein unzerstörbares Streben nach Aktivismus und Weltverbesserung. Denn allzu oft ergab sich aufgrund der komplett unterschiedlichen Lebensstile (und meines ehrlichen und aneckenden Selbstbeschriebs) mehr oder weniger spannende Dialoge über allerhand gesellschaftskritische Themen, welche nicht einmal bewusst forciert werden mussten, weil das Thema eher uns fand als umgekehrt. So habe ich sicher ein Dutzend Mal über das Thema Reisen und dessen Wirkung auf das Klima und die Umwelt gesprochen und mich erklären müssen (oder dürfen), wieso ich seit fünf Jahren nicht mehr geflogen bin, was Fair Fashion genau ist oder wie Tierrechte und Ernährung zusammenspielen (oder je nachdem interferieren):
Natürlich sind solche kontroversen Themen nicht unbedingt förderlich für die Entwicklung einer zwischenmenschlichen Anziehung oder gar einer erotischen Spannung (schliesslich mag es niemand, vor den Kopf gestossen oder kritisiert zu werden; egal wie subtil und natürlich dies geschehen mag), jedoch habe ich die Erfahrung gemacht, dass meine Gegenüber lieber eine leidenschaftliche Diskussion geführt haben, als in einer Auflistung von Small-Talk-Fragen nicht vom Fleck zu kommen – die Art und Weise, wie die meisten Interaktionen auf einer Dating-App enden (oder eben nicht). So gesehen war mein Outing als Aktivist sowohl Fluch als auch Segen. Auch fand ich es spannend zu sehen, mit welchen Problemen sich die Menschen ausserhalb meines nahen sozialen Umfelds herumschlagen – und umgekehrt: Anzahl Kalorien im Essen vs. Anzahl getöteter Tiere für das Essen; karibisches Korallentauchen vs. Klimawandel-bedingtes Korallensterben; Jammern über akute Winterkälte vs. tief besorgt Sein über unaufhaltsame Erderwärmung; sich stundenlang Ärgern über einen falsch gepfiffenen Schiedsrichterentscheid vs. verzweifeln an der Unfähigkeit des Menschen, Wichtiges von Nichtigem unterscheiden zu können... Bei einem tatsächlichen Treffen im realen Leben konnte man diesen Lerneffekt noch weitaus stärker wahrnehmen. So erkannten manche Menschen durch die Interaktion mit mir, dass Aktivismus auch ein sehr (sehr!) sinnstiftender Teil des Lebens sein kann; während ich vielleicht realisieren konnte (oder musste), dass die Weltprobleme, welche mich quälen, zuweilen zu gross für mich sind und die Welt womöglich nicht schneller untergeht, wenn ich mir mal ein paar Tage Auszeit gönne. Last but not least wurde mir allmählich bewusst, dass viele Tinder-Benutzer die App auch häufig dazu verwenden, um ein bisschen Geborgenheit und spontante Gesellschaft (in der Regel nicht einmal bloss sexueller Art) zu finden, falls der übliche Freundeskreis mal zu beschäftigt sein sollte. Tinder kann uns also auch alle etwas weniger einsam machen – auch wenn dies natürlich ein trügerisches Empfinden ist und womöglich nur für eine kurze Weile andauert. Wenn man sich dessen jedoch bewusst ist und man das Beste aus der Situation zu machen versucht, dann kann man dieser Dating-App also durchaus auch Gutes abgewinnen. Immerhin kann man durch spannende Gespräche mit unterschiedlichsten Menschen auch persönlich wachsen und weiser werden. Und wer weiss, vielleicht wartet ja doch die grosse Liebe hinter dem nächsten Swipe und es entsteht daraus ein tatsächlicher, analoger Match. Oder zumindest ein kurzweiliger Blogpost.
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