Wie lange darf man sich über die Abstimmungsresultate freuen? Wie lange darf man die Zivilgesellschaft hochloben; diesen Begriff, der seine Magie durch den exzessiven Gebrauch in den letzten Wochen schon fast wieder verloren hat; dessen Transformation zu einem (pfefferscharfen?) Unwort oder zumindest zu einer leeren Worthülse schon weit fortgeschritten ist? Ist dies der Beginn einer Neuordnung in Gesellschaft und Politik? Der Beginn einer neuen Schweiz?
Die Euphorie ist zumindest vorbei. Und die Realität des Alltags sehr rasch zurückgekehrt. Wie nach dem Final einer Fussball-Weltmeisterschaft oder dem Rausch einer feuchtfröhlichen Nacht voller Endorphine: Übrig bleibt eine Aneinanderreihung von leblosen, kalten Katertagen nach der Katharsis von gestern. Denn im Gegensatz zum Fussball-Weltmeister, bleibt für die Abstimmungssieger kaum Zeit, sich im Erfolg zu sonnen; sich gross auszuruhen von den Strapazen vor und während dem entscheidenden Abstimmungsfinale. Die nächsten Initiativen haben sich nämlich bereits in der Garderobe eingerichtet und pochen auf den nächsten Wettkampf, welcher am 5. Juni stattfindet (interessanterweise fünf Tage vor dem Eröffnungsspiel der EM 2016 in Frankreich): Die Selbstbestimmungsinitiative, die Burka- resp. Verhüllungsverbotsinitiative (welche sich beide jedoch noch nicht für die Begegnungen im Sommer qualifizieren konnten) oder die Asylgesetzrevision – um nur einige Anwärter zu nennen. Zu Recht stellt sich also die Frage: Kann diese Mobilisierung der Bevölkerung wieder stattfinden? Der vorbildliche Einsatz vieler Organisationen und Einzelpersonen war für alle Beteiligten wohl auch deshalb spannend und ansprechend, da man sich als Teil einer grösseren Sache, gar einer kleinen Revolution verstand. Aber das ist nur die Sonnenseite des Abstimmungskampfes, denn die wahren Kämpfer und Helden sind unfreiwillige Masochisten, die sich diese Anstrengungen immer – oder zumindest so oft wie nötig – antun. Ein Teil der konsumorientierten, trittbrettfahrenden Bevölkerung wird allerdings schnell aufgeben, wenn erst mal realisiert wird, wie viel Energie der langfristige Polit-Aktivismus kostet. Haben wir nicht bereits vor dem Abstimmungssonntag viele Klagerufe und Lamentationen überhört, die sich ab der Omnipräsenz des politischen Themas geärgert haben? Jene Leute werden sich bei einer zu baldigen Abstimmung womöglich wieder lieber mit anderen, unpolitischen Themen (z.B. die mentale Vorbereitung auf die EM 2016) beschäftigen und warten bis der politische Sturm vorüber ist. Diese Haltung ist sicherlich nachvollziehbar; denn wer wünscht sich so bald schon wieder neuerliche Abstimmungen? Die scheinbar paradoxe Überlegung eine Initiative zu lancieren, welche undurchdachten, verfassungswidrigen Volksinitiativen frühzeitig den Garaus macht, scheint diesbezüglich gar nicht mal so unsinnig. Und wenn selbst Christoph Blocher den Übermut der Bevölkerung hinsichtlich nationaler Volksinitiativen – auch jenen seiner eigenen Partei – etwas bremsen möchte, dann muss das wohl was heissen. Andererseits stammen die Worte vom gleichen Christoph Blocher, der die Schweiz vor nicht allzu langer Zeit als linke Diktatur ohne Meinungsfreiheit bezeichnete und wahrscheinlich auch in Zukunft wieder genauso absurde Voten wie ein Donald Trump schwingen wird. Es lebe der Populismus. Fakt ist, dass diese teilweise absolut unnötigen Initiativen nicht nur Nerven kosten, sondern auch viel Geld. Geld, das man beispielsweise in die Bildung investieren könnte, damit die Zivilgesellschaft von morgen reflektierter und besonnener an die folgenden Abstimmungen herangehen möge. Denn man darf nicht vergessen, dass sich 40 Prozent der Bevölkerung im Februar gegen Menschenrechte und Gleichberechtigung ausgesprochen haben. Das ist eine Menge. Eine Menge, die sich nicht einfach so verflüchtigen wird, sondern auch in Zukunft um Themen mitspielen wird, die eine weitaus grössere Tragweite haben als ein Fussballturnier. Eine gute Sache hat das Ganze trotzdem: Mehr Leute denn je schienen am Abstimmungssonntag richtiggehend mitzufiebern; als handle es sich dabei tatsächlich um den Nervenkitzel eines Finalspiels (hinsichtlich der CVP-Initiative sogar mit Elfmeterschiessen). Auch intellektuellere, wenig-sportbegeisterte MitbürgerInnen litten bis zur letzten Sekunde mit ihrem "Team" mit; denn die Auswahl ihres Teams basierte nicht lediglich auf einer willkürlichen, lokal-patriotischen Liebe, sondern auf einer politischen und ethischen Haltung, die es zu verteidigen galt. Man kann also nur hoffen, dass die "Wahlmeisterschaft" am 5. Juni genauso nervenaufreibend und packend sein wird wie die vergangene: Eine Nation im "WM"-Fieber. Gut möglich, dass die anschliessende Fussball-EM dann regelrecht langweilig dagegen erscheinen wird.
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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