Jeder hat einen „Bis hier und nicht weiter“-Moment. Letzten Winter war dieser ganz offensichtlich spürbar, als eine gewisse Partei im Alleingang die Europäischen Menschenrechte kündigen wollte (man erinnere sich an die „Mir langets“-Kampagne anlässlich der Durchsetzungsinitiative). Im Gegensatz zu diesem kollektiven Moment des Aufwachens stehen einige von uns nun allerdings einem persönlichen Entscheidungsmoment gegenüber – obwohl dieser das Kollektiv (i.e. unsere Gesellschaft) ebenso stark beeinflussen wird.
Vor einigen Tagen erhielt ich nämlich eine Mail zu den aktuellsten „Sanierungsmassnahmen“ - oder weniger diplomatisch und heuchlerisch ausgedrückt: Leistungsabbau – im Bereich der Volksschule. Dies ist insofern ärgerlich, weil wir im Kanton Aargau (woanders wird die Situation wohl auch nicht gross anders aussehen) während den letzen Jahren bereits ununterbrochen dem Sparhammer zum Opfer gefallen sind (z.B. die Erhöhung der Anzahl Unterrichtslektionen ohne Lohnanpassung; die Streichung diverser Freifächer [u.a. Schülerband]; grössere Schulklassen; oder ganz gewöhnliche Lohnreduktionen). Und nun dies: „Das Pflichtfach „Musik“ wird an der 1. Bezirksschulklasse um 1 Lektion reduziert.“ Von allen bisher vorgenommenen Sparmassnahmen ist das die definitiv grösste Hiobsbotschaft. Im Gegensatz zu Hiob macht es hier jedoch keinen Sinn, den unbegründeten Zorn der Regierung einfach so zu akzeptieren und darin eine vermeintlich sinnvolle Botschaft zu sehen (nicht, dass die in der biblischen Geschichte zu finden wäre). Nein, eigentlich gibt es in diesem Fall nur den Weg des Widerstands. Denn obschon jede Lohnreduktion stossend und meist ungerechtfertigt ist, so wird die Ausübung der Lehrtätigkeit dadurch nicht grundsätzlich beeinträchtigt. Wenn nun aber gewisse Lektionen einfach komplett gestrichen werden, kann eine Lehrperson ihren Bildungsauftrag schlicht nicht mehr wahrnehmen. Mit evidenten Folgen für die Gesellschaft. Damit einem als LeserIn allerdings nicht das Gefühl beschleicht, es handle sich bei dieser Aussage lediglich um den subjektiven Aufschrei eines von Sparmassnahmen tangierten Arbeitnehmers (davon gäbe es ja genug), möchte ich zunächst erklären, was eine Musiklehrperson überhaupt macht, respektive was er/sie alles zur Allgemeinheit beiträgt (oder zumindest könnte/sollte; zur Selbstkritik komme ich etwas später). Der Musikunterricht an einer Volksschule – und besonders an einer Bezirksschule, an welcher das Niveau am höchsten ist – besteht nämlich nicht bloss aus Singen. Aus diesem Grund heisst ja das Fach auch nicht (mehr) so. Nein, im besten Falle ist er ein komplexes Kaleidoskop aus unterschiedlichen Disziplinen. Psychologie und Philosophie können genauso gut in den Unterricht finden wie Politik, Geschichte, Geografie, Fremdsprachen oder gar Mathematik (bspw. in gewissen Bereichen der Musiktheorie); so dass wir am Schluss ganz essenziellen, fächerübergreifenden Fragen gegenüberstehen wie „Was ist Kunst?“ oder „Wie beeinflusst die Musik unsere Gesellschaft und umgekehrt?“. Letzteres ist besonders schön erklärbar, wenn wir beispielsweise im Musikunterricht der 2. Bezirksschule die Stile Soul, Funk und Hip Hop in einem grösseren Zusammenhang betrachten. Diese so unterschiedlichen, aber eng verknüpften Stile der „Black Music“ sind nämlich nichts anderes als ein Spiegel jener Zeit (Hinweis: Wer nicht geduldig, wissbegierig oder nur kurze "20 Minuten"-Beiträge gewohnt ist, der möge diesen kursiv-geschriebenen Exkurs überspringen): Zu Beginn der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung waren die Songs positiv und optimistisch wie die hoffnungsvolle Stimmung in den frühen 60er Jahren. Politische Statements in den Liedtexten waren zwar vorhanden, wurden vorerst jedoch nur subtil angedeutet (im Vergleich zu späteren Titeln wie „Say it loud – I'm black and I'm proud“). Dies passte zum gewaltlosen Widerstand dieser Zeit, durch welchen man sich moralisch unantastbar machen wollte, indem man die Kritik der Weissen sogleich umsetzte. So reagierten die Schwarzen beispielsweise mit Überpünktlichkeit, wenn die Weissen ihnen fehlende Pünktlichkeit vorwarfen. Als Lehrperson erkläre ich den SchülerInnen dabei auch, inwiefern eine solche Strategie auch in ihrem Leben sinnvoll sein kann (wenn man in den Peers oder von Erwachsenen stigmatisiert wird) – und wo die Grenzen dieser Strategie liegen. Wenn nämlich diese Vorgehensweise keine Erfolge zeigt und die Gewalt der unterdrückenden Machthaber sogar noch zunimmt – in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung offenbarte sich dies in dem Attentat auf Martin Luther King –, so bedarf es logischerweise irgendwann einer strategischen Anpassung. Während die Fröhlichkeit der Soul-Musik also einer gewissen Hoffnungslosigkeit wich, entwickelte sich der Funk, in dessen Musik sich die Resignation der Bevölkerung deutlich spiegelte. Da man nicht mehr an eine Wende auf diesem Planeten glaubte, tanzte man sich den Frust vom Leib und stürzte sich ausserdem in eine fremde, ausserirdische Galaxie, was sich nicht nur musikalisch, sondern auch bezüglich der Kleidung und der Bühnenshow äusserte. Dass man dieser Utopie von einem fernen Planeten ohne Rassismus auch nicht mit Drogen näher kam, liegt auf der Hand. Dennoch sind solche psychologischen Prozesse ein spannendes Phänomen , das man eben auch in der Musik jener Zeit beobachten konnte (übrigens sehen wir heute ähnliche Tendenzen, wenn wir an die Flucht ins Virtuelle denken, wo wir unsere eigene, kleine, heile Welt ohne Flüchtlingskrise oder Klimawandel aufbauen). Meistens frage ich dann an diesem Punkt die SchülerInnen, welche Möglichkeiten es denn sonst noch gäbe, abgesehen vom friedlichen Protest und dem Abdriften in eine utopische Welt. Die Antwort ist leicht gefunden, da die SchülerInnen dies ja bereits während dem Behandeln der Soul-Musik sehen und erkennen konnten: Die Ausübung von Gewalt. Zunächst scheint dies für die SchülerInnen verwirrend zu sein, da ein Schulhaus ja eine gewaltfreie Zone ist und auch sein sollte. Dennoch ist es bedeutend, diesen Weg als zumindest hypothetische Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Ausserdem ist es spannend, wie differenziert die Jugendlichen bereits das Konzept der Gewalt verstehen, zum Beispiel dass dies nur der letzte Schritt von einer Fülle an Strategien sein sollte oder dass es angesichts des Kontexts der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung durchaus Berechtigung hatte, sich mit allen möglichen Mitteln zu wehren (und dass die Schlichtung eines Streits auf dem Pausenhof damit nicht vergleichbar ist und deshalb nicht mittels Gewalt gelöst werden sollte). Dieser Moment der Eskalation ist auch die Geburtsstunde des Hip Hop, in welchem der Tonfall in der Musik – entsprechend der allgemeinen Stimmung in den USA – aggressiver wurde. Diese politische Realität ist in der Musik jener Zeit stark spürbar und relativiert somit auch die gewaltverherrlichenden Rap-Texte von damals (im Gegensatz zum aktuelleren Gangsta-Rap, welcher nur noch mit Kommerzialisierung und Marketing zu tun hat; immerhin hat ein Bushido mit einem auf 20 Millionen geschätzten Vermögen nichts mehr mit der harten Realität des „Thug Life“ zu tun). Als dann der schwarzen Bevölkerung Amerikas immer mehr Rechte zugestanden wurde, veränderte sich auch der Hip Hop: Die sozialkritische Anspannung in den Texten wich einem konsumverherrlichenden Hedonismus. Anspielungen auf die Realität in den Ghettos waren zwar noch möglich, aber konnten kaum noch ernst genommen werden, weshalb irgendwann in den letzten Jahrzehnten eine Welle des europäischen Gangsta Raps über uns gerollt ist (da man als in Europa lebender Konsument wohl die Texte über die Armut aus den Banlieus von Paris oder den Krisenvierteln in Berlin authentischer fand). Dass diese Form der Rapmusik mittlerweile einer Art von „Protein-Rap“ gewichen ist, in welchem sich der Körperkult der Gegenwart manifestiert hat, dient uns, nach dieser intensiven Auseinandersetzung mit der Kultur der letzten 50 Jahre, einerseits als Rückführung in das 21. Jahrhundert und andererseits als Erklärung für die Entwicklungen und Tendenzen in der aktuellen Musik. In einem einzigen Quartal können also im Musikunterricht diverse musikalische, soziologische, philosophische, geschichtliche und kulturelle Aspekte abgedeckt werden, die so nie und nimmer im Mathematik-Unterricht behandelt werden könnten (nichts gegen Mathe, aber ich bin noch im "Diss-Modus" vom behandelten Thema oben). Schon möglich, dass es Mathematik-Lehrpersonen gibt, die diese Herkulesaufgabe ebenfalls bewältigen, aber es lässt sich zumindest nicht abstreiten, dass diese Vielseitigkeit im Fach Musik offenkundiger ist und auf natürlichere Weise vermittelt werden kann. So kann man beispielsweise beim Thema Jazz auf das Merkmal der Improvisation eingehen, auf die Angst und Notwendigkeit Fehler zu machen und Neues auszuprobieren. Der Stil bietet ausserdem zahlreiche Anknüpfungspunkte, um der Sterilität der aktuellen Pop-Musik zu entweichen. In (sehr korrekturaufwändigen) Aufsätzen zu frei gewählten Jazz-Musikern kann man dieses Kennenlernen des Fremden als Lehrperson wunderbar beobachten. Ziemlich häufig ist man sogar Zeuge, wie der Funke auf die SchülerInnen über springt und sie ihre Gewohnheiten hinterfragen, dem Unvertrauten mit einer herrlich kindlichen Neugier begegnen und sich so selber auf eine kleine Entdeckungsreise machen. Natürlich lässt sich dieser Musikstil auch gut mit der Geschichte und Geografie Amerikas oder der bildenden Kunst (bspw. abstrakter Expressionismus) verknüpfen. Sogar die elementare Frage, was denn Kunst überhaupt sei (Stichwort „Free Jazz“), lässt sich damit thematisieren. Oder das Thema Michael Jackson, bei welchem man auch Mechanismen der Pop-Industrie behandeln kann; welchem Druck die „Stars“ von heute ausgesetzt sind; wie viel Privatsphäre einem Menschen zusteht; oder wie viel deren Erfolge mit Frühförderung, Glück, Selbstmarketing und Vitamin B zu tun haben. Dass diese Frage auch hinsichtlich der Berufswahl relevant ist, liegt auf der Hand. Ebenfalls lehrreich, wenn wir im letzten Jahr der Bezirksschule im Musikunterricht darüber philosophieren, inwiefern die allgegenwärtige und meist kostenlose Verfügbarkeit von Musik unsere Hörgewohnheiten ändert; wie Youtube, Spotify und Co. einerseits dazu führen, dass wir alle Zugang zu einer nie dagewesenen, gigantischen Bibliothek an Interpreten, Musikstilen etc. haben; wie aber dies auch zu einer Art Überforderung der Konsumenten, zu massiven finanziellen Einbussen (und - damit verbunden - leider häufig auch zu Abstrichen hinsichtlich der Qualität der Musik) oder zu einer generellen Abwertung der Musik führt. Auch musiktheoretische Themen eignen sich für spannende Exkurse. Das Thema Akkorde und Dreiklänge ist nämlich nicht nur zur Erlernung von instrumentalen Fähigkeiten förderlich, sondern kann auch als Indikator für die kompositorische Komplexität (i.e. Qualität) der Musik verwendet werden. So fällt den Jugendlichen beim Studieren ausgewählter Musikstücke auf, wie sehr sogenannte Four-Chord-Songs (Kompositionen mit der immer gleichen Abfolge von vier Akkorden) in den Charts zugenommen haben und erkennen dadurch, weshalb diese häufig so unglaublich ähnlich klingen - und wie erschreckend stark wir uns schon an diese musikalische Einöde gewöhnt haben. Diese Auswahl an Unterrichtseinheiten aus meinem Musikunterricht sollte uns also zur Frage führen, was denn Bildung eigentlich erreichen soll. Wenn die Antwort darauf ein Bulimie-artiges Lernen fachspezifischer Fakten sein soll, und wir unsere Kinder zu angepassten, unreflektierten Chef-SekretärInnen machen wollen, dann ist die Reduktion musischer Fächer vollkommen legitim. Wenn wir jedoch nachhaltiges Wissen fördern wollen, das zu mündigen, kreativen Individuen mit einer Fähigkeit zu reflektiertem, rationalem und fächerübergreifendem Denken führt, dann brauchen wir solche künstlerischen und kulturellen Fächer wie Musik oder Bildnerisches Gestalten umso mehr. Das bedingt natürlich, dass wir als Lehrpersonen einen solchen Unterricht auch effektiv durchführen. Damit können wir nämlich einerseits beweisen, dass die Anschuldigungen der Regierung unbegründet sind, dass unser Fach nicht relevant sei (und machen uns moralisch unangreifbar - ähnlich wie während der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung); und andererseits wird ein gut durchdachter, vielseitiger Unterricht auch irgendwann Früchte tragen. Wenn wir nämlich gute Bildung betreiben – selbst, wenn man uns mit Sparmassnahmen traktiert –, dann werden diese Personen irgendwann für eine gute Bildung stimmen, da jeder gebildeten Person bewusst ist, wie wichtig ein gutes Bildungssystem für eine Gesellschaft ist. Bei all den intellektuellen Überlegungen darf das Singen und Musizieren im Musikunterricht natürlich nicht vergessen werden (inklusive dem obligaten Vorsingen, bei welchem alle mit zittrigen Stimmen und Beinen ihre Scham überwinden müssen). Musik soll auch ein Fach sein, wo das Verkopfte dem Sinnlichen weicht, wo der womöglich etwas monotone Alltag der SchülerInnen aufgebrochen wird. Die Ausführungen oben sollten lediglich zeigen, dass das Fach nicht auf die Trivialität von sich bewegenden Stimmbändern reduziert werden darf und einen äusserst wichtigen Teil zur Kultur und dem gesellschaftlichen Leben beiträgt. Deshalb sollte bei der Musik im Speziellen – und bei der Bildung im Allgemeinen – nicht oder nur sehr besonnen mit dem Sparhammer hantiert werden. Besonders dann nicht, wenn man in anderen Bereichen wie dem Militär vergleichsweise lächerlich kleine „Sanierungsmassnahmen“ ansetzt und die Bauern mal wieder ohne Einbussen davongekommen sind. Denn sonst führt die Sparwut womöglich irgendwann dazu, dass die Bildung insgesamt bald auf Sparflamme läuft. Und sollte diese Flamme irgendwann mal erlöschen, so wird es in unserer Gesellschaft sehr, sehr dunkel werden.
2 Comments
BLM
4/9/2016 11:13:19 pm
Wichtiges Thema! Danke!
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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