Über Schokoküsse, Statuen und alte Filme – Wie die Rassismus-Debatte die Gesellschaft spaltet14/6/2020 Ich mag mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal einen Schokokuss gegessen habe.
Wahrscheinlich ist es einige Jahre her, da es diese Dinger (fast) nirgends in vegan gibt. Und dennoch schreibe ich jetzt darüber und äussere mich ausserdem erstmals zur Rassismus-Debatte, die seit ein paar Wochen die Medien und die Gesellschaft dominiert. Wieso ich bisher nichts geschrieben habe? Nun, es ist kompliziert... Als ich von dem tragischen Vorfall von George Floyd erfahren habe, war ich konsterniert – auch wenn ich mir das Video gar nicht angeschaut hatte (es reicht ja eigentlich schon, sich das Ereignis lediglich vorzustellen). Ich überlegte mir dann, was ich dazu schreiben könnte, merkte dann jedoch, dass schon fast alles darüber gesagt oder geschrieben wurde – besonders in den amerikanischen Medien wurde ja über die Begebenheit(en) ausführlich berichtet. Als dann plötzlich alle Personen schwarze Profilbilder auf Social Media präsentierten, hatte ich ein kleines Déjà-Vu: Ähnlich wie damals bei den Terrorattacken in Paris (siehe Blogpost #ForParis) habe ich mich gefragt, was denn diese Aktion eigentlich bewirken soll. Natürlich ist es "erfreulich" zu sehen, dass ein solch tragischer Vorfall immerhin hohe Wellen schlägt und man gewisse gesellschaftliche Probleme (international) wieder zu diskutieren beginnt. Allerdings schien diese Diskussion für viele Leute, welche nun plötzlich ein schwarzes #BlackoutTuesday-Profilbild hatten, nicht wirklich relevant zu sein, da eine einfache Geste immer einfacher ist als eine grossflächige Analyse oder gar eine Verhaltensänderung. Dass diese Profilbild-Aktion dafür gesorgt hatte, dass man plötzlich unter Hashtags wie #BlackLivesMatter kaum mehr Informatives gefunden hatte, wurde immerhin bald darauf auch von verschiedenen Seiten realisiert und man bat die Leute, sich doch andere Hashtags zu überlegen – so ähnlich wie wenn man eine Notruf-Nummer nur dann wählen sollte, wenn es auch wirklich ein Notruf ist. Was mich jedoch noch mehr irritierte als diese Social-Media-Aktion, von welcher zumindest die effektive Wirkung im Kampf gegen Rassismus hinterfragt werden kann; war die Tatsache, dass gewisse Menschen – auch in meinem Umfeld – online angefeindet wurden, wenn sie diese schwarzen Profilbilder nicht ebenfalls einrichteten (so im Sinne von «Bist du keiner von uns, bist du einer von ihnen»). Es schien fast, als ob es nicht darum ginge, tatsächlich etwas zu verändern, sondern ein blosses Statement für die Öffentlichkeit reichen würde. So gesehen scheinen die ‘allerbesten Gutmenschen’ diejenigen zu sein, die sich am besten als solche verkaufen können; und nicht jene, die am meisten tatsächliche Veränderung bewirken. (Diese Tendenz, dass Schein hin und wieder offenbar wichtiger ist als Sein, sieht man auch in anderen Themenbereichen, beispielsweise als es darum ging, ‘who stayed the fuck home the best’ während der Corona-Krise.) Dass ich beispielsweise in meinem Musikunterricht im Rahmen des Themas «Soul, Funk & Hip Hop» über die Schwarze Bürgerrechtsbewegung spreche und wie Kunst und Kultur eng verwoben mit der gesellschaftlichen Entwicklung ist (siehe Blogpost Bildung auf Sparflamme), scheint beispielsweise weniger interessant zu sein, weil es halt nicht so einfach erkennbar ist wie ein Profilbild in schwarz oder in den Farben Frankreichs. Und auch ein "Koala im brennenden Regenwald"-Post ist einfacher hochgeladen als ein paar Hundert Franken für die Wiederaufforstung und Hilfe vor Ort gespendet oder eine eigene Verhaltensveränderung intiiert, um den Klimawandel zu bekämpfen. Anyway, mich irritierte allerdings auch die immer lauter werdenden Statements von bekannten und von mir eigentlich geschätzten Stimmen wie Trevor Noah oder John Oliver, welche plötzlich in den immer extremer werdenden Kanon einstimmten; also beispielsweise dass Plünderungen und Gewaltexzesse legitim seien, weil der soziale Vertrag kaputt ist («the social contract is broken»). Wieder fiel es mir schwer, mich mit der eigentlich mir vertrauten Bewegung und politischen Seite zu solidarisieren, weil sie mir durch eine gewisse Radikalität irgendwie fremd wurde. Das war bereits so, als plötzlich aus linken Kreisen sehr drastische Massnahmen in der Bekämpfung der Corona-Pandemie laut wurden oder als in der feministischen Bewegung plötzlich das männliche Geschlecht per se als problematisch (oder zumindest suspekt) betrachtet wurde. Dass es immer radikale Tendenzen innerhalb einer Bewegung gab, war mir logischerweise schon lange klar und ist in der Regel auch notwendig; aber die Tatsache, dass solche Haltungen vermehrt auch vom Kern einer Bewegung gepusht und teilweise undifferenziert weitergegeben werden, war mir neu. Plötzlich hiess es beispielsweise vielerorts, dass man alte Bücher oder Filme wie «Vom Winde verweht» boykottieren müsse, da diese (unbestrittenerweise) ein veraltetes und stereotypes Bild von Schwarzen zeigen würden. Doch anstatt diese grossen Werke als Zeugen einer vergangenen Zeit zu betrachten, welche man im Kontext des 21. Jahrhunderts neu besprechen müsste, will man sie lieber gleich ganz verbieten – so zumindest der Tenor innerhalb der Black- Lives-Matter-Bewegung. (Immerhin plant HBO nun hingegen doch eine Wiederveröffentlichung mit einer zusätzlichen Diskussion über den historischen Kontext, was ich als einen sinnvollen Kompromiss betrachte.) Klar, aus einer rein auf Rassismus-fokussierten Sicht kann man tatsächlich nicht mehr hinter solchen Werken stehen, aber man darf dabei beispielsweise nicht die Sicht der Kunst vergessen: Wenn wir anfangen, Bücher und Filme aufgrund von veralteten Darstellungen zu zensieren, wo hören wir dann auf mit der Zensur? Ein gutes Beispiel dafür sind auch die Statuen, die teilweise nun zerstört oder gestürzt wurden: Braucht es tatsächlich eine Statue von einem Sklavenhändler wie Edward Colston, der tatsächlich vorwiegend durch seinen «Atlantic Slave Trade» von sich reden machte und dessen Statue nun in den letzten Tagen von Protestierenden in Bristol in einen Fluss geworfen wurde? Ich würde meinen ‘Nein’. Denn jemand, der nichts anderes vorweisen kann als ein paar grosszügige Zahlungen an politische und religiöse Parteien sowie eben einen komplett unethischen Beruf, sollte keine Statue haben – zumindest nicht in der heutigen Zeit. Doch wie sieht es aus mit der kürzlich entbrannten Debatte über die Alfred Escher Statue in Zürich, welchem nachgesagt wurde, dass er über Umwegen irgendwie auch verstrickt war in Sklavenhandel? Ich würde meinen, dass ein solcher Fall schon deutlich weniger klar ist, weil die Haupttätigkeit Eschers eine andere war und er im Vergleich zu Colston doch weniger involviert in rassistische Handlungen war. Und auch hier stellt sich die Frage: Was ist denn mit all den Statuen (oder Unternehmen, Parteien, Menschen etc.), die involviert sind in klimaschädliche Handlungen wie die Kohleindustrie oder modernen Sklavenhandel wie die Produktion von Textilien in Bangladesch oder Minenarbeit im Kongo unterstützen? Was ist mit all den Leuten, die sich hinter das millionenfache Leid und Töten von fühlenden Lebewesen durch ihren Konsum von tierischen Produkten stellen? Würden wir all jene Filme und Serien absetzen, die die "Versklavung" und systematische Tötung von Hühnern, Schweinen, Kälbern etc. auf irgendeine Weise zelebrieren (Stichwort Speziesismus), wäre Netflix und Co. ein kultureller Friedhof. Je weiter wir also unser Spektrum an unethischen Handlungen öffnen, desto mehr Leute fallen durch dieses Raster – und desto mehr rügen, zensieren oder bestrafen müssten wir dementsprechend. (Damit will ich allerdings nicht bloss das typische Whataboutism-Argument liefern, dass man dadurch nicht auch klar rassistische Werke diskutieren und allenfalls ersetzen sollte.) Doch als wären die Diskussionen um die Filme und Statuen nicht schon genug gewesen, machte schon ein neues Thema von sich reden: Schokoküsse oder ‘Mohrenköpfe’, wie sie vielerorts leider noch genannt werden. Und auch hier fand ich mich letztendlich zwischen zwei Fronten wieder, welche ich beide zu einem gewissen Teil verstehen konnte (wobei ich doch deutlich mehr Sympathien für die eine Seite hegte). Denn natürlich wirkt das Entfernen von solchen Produkten aus einer Supermarkt-Kette wie ein radikaler Schritt, welcher ein Teil der Bevölkerung ratlos zurücklässt - insbesondere, wenn man von den Feinheiten des Falls keine Kenntnis hat. Andererseits muss man eben auch sehen, dass der Unternehmer der Firma Dubler, welche die Süssigkeiten herstellt, ein unverbesserlicher Greis ist, der seine Produkte lieber aus dem Sortiment nehmen sieht, als sich an die heutige Zeit anzupassen, und welcher ausserdem mit einem lächerlichen Statement («Der Stiefvater meiner Frau etwa ist schwarz.») versucht, seine Intoleranz zu kaschieren; als ob eine solche Aussage von irgendeiner Relevanz wäre («Ich kaufe zwar täglich mein Schinken-Sandwich, wofür arme Schweine [auch in der Schweiz] leiden müssen; aber hey, ich kenne da so einen Blogger aus Basel, der Veganer ist, also bin ich safe, oder?»). Und plötzlich sprechen wir alle über eine Nebensächlichkeit, die zwar durchaus reformiert werden müsste (meiner Meinung nach wäre eine Umbenennung sinnvoll und eigentlich eine kleine Sache... eigentlich...), aber dennoch auch wieder von den wirklichen Problemen ablenkt: Vorurteile gegenüber Dunkelhäutigen, rassistisch motivierte Beleidigungen oder Gewalttaten, ‘Racial Profiling’ usw. Dies darf uns aber auch nicht davon abhalten, weiterhin einen differenzierten Blick auf die ganze Thematik zu werfen und nun nicht die Polizei als Volksfeind Nummer 1 zu diskreditieren oder weisse Menschen (die Aufteilung in «weiss» und «schwarz» ist ja sowieso eigentlich höchst absurd in einer globalisierten Mutli-Kulti-Welt) aufgrund ihrer Privilegien zu kritisieren. Es ist nicht so, dass sich nichts getan (i.e. verbessert) hätte seit den Anfängen der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren. Gleichzeitig ist es natürlich auch nicht so, dass mittlerweile alles gut wäre und Rassismus kein Problem mehr darstellen würde (wir sehen beispielsweise auch vermehrt rassistische sowie homophobe oder antisemitische Tendenzen oder Taten von Menschen, die selber in die Schweiz migriert sind). Dass es wichtig und richtig ist, in regelmässigen Abständen die Rassismus-Debatte zu führen, liegt auf der Hand. Dass wir aber versuchen sollten, vernünftige, gewaltfreie, differenzierte und lösungsorientierte Aussagen zu treffen, damit wir die heterogene Gesellschaft nicht weiter auseinandertreiben, sollte ebenfalls in unserem Blickpunkt sein. Die Coronakrise hat bereits einen kleinen Einblick gegeben, was es heisst, wenn sich innerhalb einer Gesellschaft verschiedene Positionen oder Gruppierungen radikalisieren (#StayTheFuckHome vs. #GrundrechteBehalten). Wenn wir wirklich Fortschritt anstreben wollen, müssen wir mehr (und verständnisvoller) miteinander diskutieren und auch die anderen Sichten zu verstehen versuchen. Ansonsten werden wir statt «Mohrenköpfen» zwar bald nur noch «Schokoküsse» in Supermärkten kaufen können, aber die rassistischen Ressentiments werden weiterhin unterhalb einer süssen, glatten Glasur vorhanden sein.
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