Die Zeilen, die ihr letzte Woche im Beitrag „Das Faktum des Gebrotes“ gelesen habt, stammen nicht von mir, sondern von einem Herrn, den ich im Rahmen eines Zivilschutz-Einsatzes im Altersheim betreut habe. Relativ bald realisierte ich, dass ich diese höchst faszinierenden Sätze, welche mein Gegenüber während zwei ausgedehnten Spaziergängen meistens in Form eines losen Monologs von sich gab, irgendwie festhalten musste – obschon ich noch gar nicht wusste, was ich anschliessend damit eigentlich anstellen sollte. Mir war natürlich auch bewusst, dass ich nicht einfach irgendwelche Gespräche transkribieren durfte – zumal es sich bei der entsprechenden Person um einen dementen Herrn in hohem Alter handelte, der sein Einverständnis für eine Veröffentlichung logischerweise nicht mehr geben konnte. Dennoch schien mir ein Blogbeitrag der künstlerischste und würdigste Weg zu sein, um mit dieser Situation umzugehen. Zunächst mal gefiel mir an den Zeilen vom letzten Beitrag die dadaistische Komponente: Gewiss haben diese Sätze auch etwas rein Humoristisches ("vom Brot entsprungen"), aber in erster Linie sind sie einfach mal absurd und wirken dadurch beinahe postmodern. Gleichwohl strahlen sie eine gewisse Tiefe aus, so dass man das Gefühl hat, es handle sich bei den kryptischen Worten um ein zu lösendes Rätsel; als ob hinter der anscheinend (oder scheinbar?) willkürlichen Aneinanderreihung von Worten eine versteckte, entschlüsselbare Botschaft läge. Das hat wohl auch damit zu tun, dass man als Gesprächspartner (respektive als Zuhörer – der letzte Blogpost war ja, wie gesagt, eher ein notierter Monolog als eine effektive Konversation) in gewissen Momenten den Genius der Person aufblitzen sehen konnte; die verlorene Intellektualität eines mittlerweile demenzkranken, aber früher mal geschätzten Philosophie-Professors – wie ich später beim Recherchieren erfuhr. Ab und zu schnappte ich bei den ausgiebigen Spaziergängen ein eloquentes Wort auf, welches sich dann jedoch sogleich wieder in der geistigen Unordnung meines Gegenübers verlor. Es ist diese unglaubliche Tragik, die betroffen macht: Der tiefe Fall einer Person, die sich mit den ganz grossen Fragen des Lebens beschäftigte – und am Ende durch eine neurologische Erkrankung nicht einmal mehr einfachste Fragen kohärent beantworten kann. Neben dem empathischen Aspekt, spürte ich schliesslich aber auch noch eine ganz persönliche Verbindung zwischen mir und diesem unscheinbaren Greisen aus dem Altersheim. Denn je mehr ich mich in meiner Freizeit mit dessen Biografie beschäftigte (in den Gesprächen erfuhr ich nicht mal konkret, welchen Beruf er einst ausübte), desto mehr erkannte ich, dass es sich bei meinem Gegenüber offenbar um einen Menschen handelte, der in seinen aktiven Jahren als Philosoph und Publizist häufig gesellschaftskritische Themen ansprach, sich beispielsweise für das Abtreibungsrecht und die Abschaffung des Militärs stark machte, fundierte Religionskritik ausübte, einen Hang zum Anarchischen hatte, sich stets kämpferisch und leidenschaftlich zu diversen politischen Traktanden öffentlich äusserte und ausserdem sehr musik- und kunstbegeistert war. Dies alles konnte man in einzelnen, seltenen Fragmenten wahrnehmen, so dass es den gesprochenen Worten eine poetische Komponente verlieh („Die Grösse sieht man manchmal erst wieder, wenn sie auftaucht in der Wildheit.“). Um dies aber auch wirklich wahrnehmen zu können, muss man allerdings gut und lange zuhören, denn nur zu schnell werden Menschen, die an Alzheimer leiden, stigmatisiert. So kann es einem schnell passieren - für das Personal in den Altersheimen ist dies leider, aber verständlicherweise an der Tagesordnung -, dass man zu sich selber sagt: „Nun, so ist es halt mit alten Menschen: Nur noch wirres Gebrabbel.“ Durch diese Stigmatisierung und Befangenheit wird das Wahrnehmen dieses lyrischen Aspektes natürlich erschwert – und die Poesie geht in der Demenz unter. Zumindest so lange, bis sie wieder auftaucht in der Wildheit. PS: Auf der Spurensuche nach der verschollenen Vergangenheit dieses Herrn bin ich übrigens auf einen Aphorismus
gestossen, welchen er vor einiger Zeit in einem seiner Bücher veröffentlicht hatte: Normalität ist jener Grad von Demenz, bei dem der Durchschnitt am wenigsten leidet...
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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