Was siehst du, wenn du einen Pullover im H&M anschaust?
Siehst du die Farbe? Das Muster? Die Form? Eine Chance auf ein Schnäppchen, weil der Preis nur 14.95 CHF beträgt? Oder siehst du die riesigen Baumwollplantagen in Indien und die enorme Menge an (Trink)Wasser, die für die Bewässerung (und nicht die Bevölkerung) benötigt wird? Die Textilfabriken in Kambodscha, wo Leute für Hungerlöhne arbeiten, welche sie für ihre arbeitsbedingten Krankheiten gleich wieder ausgeben müssen? Die ausgestossenen CO2-Emissionen, welche durch den Transport von Kontinent zu Kontinent zu Kontinent verursacht werden? Und einen Preis, der mitnichten die effektiven Kosten (nicht nur ökonomische, sondern auch menschenrechtliche und umwelttechnische) widerspiegelt? Wenn du zu ersterem tendierst: Keine Sorge, du bist nicht alleine. Leider macht das die Sache nicht minder problematisch. Denn je weniger Leute sich der Tragweite ihres Kaufs oder ihrer Handlung bewusst sind, desto mehr leidet Mensch, Tier und Umwelt darunter. Doch diese Abstraktion der Gewalt ist gewollt: Wer würde denn all diese Dinge kaufen, wenn wir eine detaillierte Auflistung jener negativen Auswirkungen eines Produkts vor uns liegen hätten? Wer würde immer noch das Burgerpatty aus Rindfleisch jenem aus Soja- oder Erbsenproteinen vorziehen, wenn wir das Rind vor uns stehen hätten und wir dabei zuschauen müssten, wie ein fühlendes Lebewesen, das eigentlich noch ein Kind ist (bei der Schlachtung nach 1.5 Jahren Aufzucht, hat die Kuh erst einen Dreissigstel ihrer natürlichen Lebenserwartung erreicht und wäre daher in Menschenjahren umgerechnet erst sechs Jahre alt...), getötet und ausgenommen wird? Wenn wir vom Kraftfutter wüssten, für welches massenhaft Regenwald in Südamerika gerodet werden musste (steckt übrigens grösstenteils auch in Schweizer Fleisch, Käse, Milch und Co. drin)? Wenn wir die (dank Millionen von Subventionen erfolgreichen) missionarischen Bemühungen der Fleischlobby sehen würden, uns weiss zu machen, dass es im 21. Jahrhundert immer noch normal oder gar notwendig ist, Millionen von Tiere zu züchten mit dem einzigen Zweck, sie dann irgendwann für unsere Gaumenfreude zu töten? Wenn wir die Millionen von hungernden Menschen sehen würden, welchen wir Land, Wasser und Nahrung stehlen (das Kraftfutter für die Nutztiere besteht ja vor allem aus Soja und Mais, welches auch direkt verzehrt werden könnte)? Die Umweltschäden von Böden und Gewässer durch Gülle? Die Klimaschäden durch das ausgestossene Methan? Die Gesundheitsschäden aufgund von immer häufiger auftretenden Antibiotika-Resistenzen oder westliche Zivilisationskrankheiten ([rotes] Fleisch steht neben Asbest, Tabak etc. auf der WHO-Liste der Krebs-verursachenden Zutaten)? Der Entscheid, wie wir uns verhalten, hängt also eng damit zusammen, wie viel wir wissen. Und genau dieses Wissen besitzen wir häufig nicht. Oder noch schlimmer: Grosse, mächtige Unternehmen oder Lobbys – im Falle von oben wären das beispielsweise H&M und ProViande – verheimlichen uns dies oder belügen uns sogar mit falschen Versprechen. (Ich bin mir bewusst, dass ich gerade wie ein Verschwörungstheoretiker klinge, aber die oben-genannten Implikationen sind ja nicht aus der Luft gegriffen, sondern tatsächlich existerende Probleme.) Natürlich sind nicht nur „böse Konzerne“ schuld an der abstrahierten Gewalt, sondern auch die Komplexität bei der Entstehung eines Produkts. Früher hatte man ein Berghaus (inklusive Möbel) vorwiegend mit Holz aus dem benachbartem Wald gebaut; heute hingegen stammen deutlich mehr Bestandteile und Materialien eines Gebäudes oder deren Einrichtung aus entfernteren Regionen oder gar Kontinenten. Dass dies auf eine Art auch eine Gewalt an Mensch, Klima und Umwelt darstellen kann (menschenrechtsverletzende Produktionsstätte in Entwicklungsländer, weite Transportwege, Zerstörung von natürlichen Lebensärumen etc.), scheint auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Ein anderes, einprägsameres Beispiel: Wenn wir einer Katze oder einem Hund mit einem schweren Hammer den Schädel einschlagen, sehen wir die angewendete Gewalt augenblicklich und allein der Gedanke daran widert uns (hoffentlich) an. Worin liegt hingegen genau der Unterschied, wenn ich einer Kuh oder einem Schwein ein Bolzenschussgerät auf die Stirn drücke und den Abzug betätige, damit ich am Schluss eine Wurst oder ein Steak auf den Grill werfen kann? Der grosse Unterschied - also abgesehen vom speziesistischen Gedanken, dass wir Katzen ein Lebensrecht zugestehen und Schweinen nicht - sind die vielen Zwischenschritte und dass nicht wir selber, sondern andere Menschen diese fühlenden Lebewesen in Akkordarbeit in trostlosen, nach Tod riechenden Hallen erschiessen müssen. Doch an diesen für uns Konsument*innen bequemen Umstand haben wir uns mittlerweile (fast) alle gewöhnt. Und diese Gewöhnung an die Abstraktion der Gewalt ist eben auch ein wichtiger Aspekt des Problem; denn wir stellen uns häufig gar keine kritischen Fragen mehr und verdrängen potenzielle kognitive Dissonanzen wie professionelle Selbstbelügner*innen. Kommt noch etwas Desinteresse und Zynismus hinzu und schon haben wir ein System, in welchem das Aufdecken der Gewalt extrem erschwert wird. Dennoch (oder genau deshalb) ist es absolut notwendig, dass Menschen, die ein solides und verlässliches (Fach)Wissen sowie eine grosse Portion Empathie besitzen, sich auch öffentlich und im privaten Rahmen äussern und diese verschleierten Probleme ansprechen. Denn die Gewalt hinter zweifelhaften Produkten und Handlungen muss ans Licht gebracht werden, damit den Konsument*innen überhaupt eine Chance gegeben wird, ihr Verhalten kritisch zu überdenken und allenfalls (hoffentlich) zu ändern. Bis zu jener Entschleierung der Gewalt ist es allerdings noch ein langer Weg, der viel aufklärerischen Aktivismus benötigt. Und bis zu diesem Tag werden noch unzählige Billigpullover bei H&M und Co. über die Ladentheke gehen.
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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