Montag. Der Tag nach den Wahlen.
Die desorganisierte, träge Kundschaft im Supermarkt nervt noch mehr als üblich. In den meisten Gesichtern glaubt man Selbstgefälligkeit oder schlicht Desinteresse auszumachen. Kein Ausdruck von Enttäuschung oder Entrüstung in der Mimik der Konsumenten. Als hätte es keinen Rechtsrutsch gegeben. Als hätte nicht die Partei am meisten zugelegt, die im Wahlkampf am stärksten die Angst vor den Flüchtlingen geschürt hatte; die die banalsten und plakativsten Antworten auf komplexe Probleme geliefert hatte; die mit ihrer Fremdenfeindlichkeit unsere humanitären Errungenschaften zerstören und mit ihrer destruktiven, oppositionsfreudigen Haltung unsere Politik unbeweglich macht und unsere Bevölkerung spaltet. Wo ist die Bestürzung darüber, dass sich gemäss einer Analyse von letzter Woche die ideologische Ausrichtung unseres Parlaments seit 1975 konstant nach rechts entwickelte? Wo ist der Aufschrei, dass diese Partei mit ihrer in diesem Jahr lancierten Volksinitiative eine Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention in Kauf nimmt? Mit diesen Gedanken schlängelte ich mich durch die behäbigen Massen bei der Früchte- und Gemüseabteilung und blieb plötzlich stehen. In einer winzigen Kiste zwischen Karotten, Kartoffeln und Kohl gab es eine Handvoll Bio-Schwarzwurzeln, die ich bisher noch nie dort gesehen hatte. Natürlich hatte ich schon von Schwarzwurzeln gehört, womöglich sogar schon gegessen (ohne mich jedoch zu erinnern); aber selber zubereitet hatte ich noch nie welche. Auch wenn sie von einem lokalen Solothurner Hof stammten, hatten sie für mich eine Art „exotische“ Anziehungskraft. Bereits im Frühling habe ich so in einem ähnlichen Überraschungsmoment die Wurzelknolle Topinambur entdeckt (für ein leckeres Topinambur-Bratling-Rezept siehe Beitrag in einer Woche) und auch damals hatte ich weder Ahnung von der Zubereitung noch vom Geschmack. Wohl aus einer Mischung aus Trotzreaktion und Neugier legte ich das unbekannte Gemüse in meinen Einkaufskorb. Bewusst entschied ich mich für das Fremde, quasi als Zeichen für die Offenheit und Gastfreundschaft in meinem Einkaufskorb. Zuhause wollte ich dann eigentlich recherchieren, wie man die Scorzonera zubereitet; allerdings war ich so hungrig, dass ich mir die Lektüre für danach aufbewahren wollte. Dies stellte sich insofern als einen Glücksfall heraus, als dass ich den Umgang mit diesem Gemüse entdeckend lernen konnte – inklusive den Schwierigkeiten und Problemen, die so etwas mit sich bringt. Zunächst war ich mal überrascht, wie krümelig die schwarze Rinde der Wurzel war. Kaum aus der Verpackung befreit, tauchte mein Tisch in ein Krümelmeer. Bei der Entfernung der Haut entblösste sich dann ein überraschend weisses Fleisch, das im Vergleich zu der dunklen Rinde richtig strahlend und unschuldig wirkte. Ich legte die gerüstete Wurzel beiseite und machte mich behutsam an ihre Geschwister-Wurzeln. Relativ bald bemerkte ich, wie meine Fingerspitzen klebrig wurden. Ich spreche jedoch nicht von einem harmlosen „Klebrigkeits-Grad“ wie beim Essen eines Pfirsichs oder dem Entfernen eines Medjool-Dattelsteins; sondern eher einem Sekundenkleber ähnelnd. Egal ob mit Seife, Abwaschmittel, Universalreiniger oder mit einem Stofftuch – die Scorzonera wehrte sich vehement gegen ihre Enthäutung und ich fluchte über ihren dickflüssigen, penetranten Saft (und über meine Ungeduld, mich nicht vorgängig über die Schwarzwurzel informiert zu haben). Leicht resigniert fuhr ich fort, bis ich alles geschält, geschnitten und beiseite gelegt hatte. Parallel dazu machte ich mir rote Linsen und schnitt weiteres Gemüse, das sich glücklicherweise nicht so heftig zur Wehr setzte. Als ich jedoch die Schwarzwurzeln in etwas Salzwasser kochen wollte, bemerkte ich, dass sich einige der Wurzeln bereits wieder bräunlich verfärbten. Natürlich ist eine solche Verfärbung nichts Aussergewöhnliches, wie man bei Avocados oder Äpfel beobachten kann. Als besonders empfand ich eher, dass die Scorzonera scheinbar wieder zu ihrer ursprünglichen Farbe zurück wollte. Plötzlich interpretierte ich ihre Gegenwehr nicht als eine lästige, willkürliche Reaktion, sondern als eine Art selbstbewusster Protest. Ich dachte an den Beginn der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und daran, wie sich die Afroamerikaner anfangs ihre Haare glätteten und versuchten, ihre Herkunft zu verbergen. Und ich dachte auch daran, dass die Afroamerikaner im Verlaufe der Bewegung immer mutiger und stolzer wurden und ihre Wurzeln „frivol“ zur Schau stellten. Ich dachte an Künstler wie Kendrick Lamar, Robert Glasper oder D'Angelo, die in jüngster Zeit diese Bewegung wieder aufgriffen und sich gegen den mehr oder weniger unterschwelligen Rassismus auflehnten. Das „Schwarze Bewusstsein“ hängt nicht mit der Hautfarbe zusammen, sondern mit dem Innersten, mit der Haltung. Noch nie nahm ich ein Gemüse so politisch war. Und noch nie hatte ich so grosse Bedenken, dieses Gemüse nun in den Kochtopf zu geben und gar zu kochen (ironischerweise ist damit genau das passiert, was einige Spassvögel als „logische Entwicklung des veganen Gedankens“ sehen; nämlich dass man plötzlich auch Mitleid für Gemüse, Früchte etc. empfindet und sich am Schluss nur noch von Fallobst oder was weiss ich ernährt...). Trotz meiner Sympathie für die Afroamerikaner und deren Kampf gegen den alltäglichen Rassismus, fuhr ich mit dem Kochen fort - immerhin war ich immer noch hungrig und wollte mir das kulinarische Experiment Schwarzwurzel nicht von meiner politischen Paranoia verderben lassen. Nachdem die Schwarzwurzel-Scheiben eine angenehm bissfeste Konsistenz erreicht hatten, machte ich noch rasch eine Sauce aus Zitrone, Margarine, Knoblauch, Salz, Pfeffer und etwas Muskat. Gespannt biss ich in die gegarte Schwarzwurzel und war erstaunt, wie Spargel-ähnlich sie nicht nur aussah, sondern auch schmeckte (was womöglich auch mit der Sauce zu tun hatte). Vielleicht etwas weniger gummig, mehr in Richtung gekochter Kohlrabi und leicht erdiger als eine Spargel. Aber durchaus lecker und erfrischend. Durch mein Rüst-Erlebnis hatte ich ausserdem das Gefühl, dass die Schwarzwurzel besonders charakterstark und vollmundig ist, obwohl spätestens hier meine schweizerische Neutralität und Objektivität infrage gestellt werden darf. Die Frage, ob ich die Schwarzwurzel wieder kaufen würde, erübrigt sich nach meinem kleinen Lobgesang natürlich. Allerdings würde ich bei der Zubereitung beim nächsten Mal wohl doch etwas anders vorgehen – immerhin habe ich meinen politischen Schlüsselmoment ja schon erlebt. Vielleicht würde ich aber auch wieder etwas Neues, mir noch Unbekanntes in den Einkaufskorb legen. Gleich neben dem Ruccola habe ich nämlich kürzlich auch "neu-wiederentdeckte" Gemüsesorten aus der Schweiz gesehen. Und wenn uns sogar das Einheimische nicht vertraut ist, wie können wir dann bereit sein für das Unbekannte ausserhalb unserer Grenzen? Man kann dem Fremden immer mit einer gewissen Skepsis entgegen treten, aber wir sollten uns nicht davor fürchten, sondern ihr mit einer Offenheit und Neugier begegnen. Und mit dieser Haltung sollten wir uns auch den politischen Angelegenheiten stellen; nicht mit Furcht, Intoleranz oder gar Hass, sondern mit Empathie, Menschlichkeit und Mut zum Fremden.
1 Comment
Eile mit Weile
17/11/2015 01:35:51 pm
Gefällt mir die Allegorie mit der Schwarzwurzel - bei mir singt gerade Nina Simone, die wunderschöne Stimme des Black civil Right movement
Reply
Leave a Reply. |
SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
Februar 2023 Oktober 2022 Mai 2022 März 2022 Dezember 2021 Oktober 2021 August 2021 Juni 2021 Mai 2021 März 2021 Februar 2021 Januar 2021 November 2020 Oktober 2020 September 2020 August 2020 Juli 2020 Juni 2020 Mai 2020 April 2020 März 2020 Februar 2020 Januar 2020 Dezember 2019 November 2019 Oktober 2019 |