Vor langer, langer Zeit, da lebte ein Prinz in einem fernen Lande, in einem prunkvollem Schloss, wo seine Eltern über ein weitläufiges Gebiet herrschten. Sie waren grundsätzlich gnädige Herrscher, vor allem seine Mutter, die Königin, welche sich rührend um die Sorgen und Probleme der Bürger*innen kümmerte. Jedoch war dem Prinz etwas ein Dorn im Auge: Zu den Tieren waren sie nur bedingt fürsorglich. Natürlich quälten sie die Kühe nicht, und auch die Hühner, Schweine, Kaninchen, Pferde, Gänse und Fische behandelten sie nicht absichtlich schlecht. Doch alle diese Lebewesen landeten früher oder später auf dem Grill oder in der Bratpfanne. „Wieso?“, fragte sich der Prinz. „Wieso sind sie bloss nett zu den Hunden und Katzen? Wieso nicht zu den anderen Tieren? Das macht doch keinen Sinn?! Was kann das Huhn dafür, dass es als Huhn geboren wurde? Und wieso vergöttern wir die Katze, die sogar in unserem Bett schlafen darf, während wir den eingesperrten Schweinen nicht einmal einen anständigen Platz zum Schlafen gönnen?“ Der Prinz verlangte von seinem Vater, dem König, Auskunft. Doch jener erwiderte bloss: „Schau mal, Sohn: Die einen Tiere sind halt zum Essen da und die anderen zum Streicheln.“ Der Prinz lief genervt davon und stellte sogleich seine Mutter zur Rede: „Mutter, wieso sind wir so grausam zu unseren Mitgeschöpfen auf der Wiese und im Stall?“ Sie antwortete mit gewohnt ruhiger Stimme: „Es ist halt schon immer so gewesen, seit vielen Jahrtausenden...“ Auch diese Antwort befriedigte den Prinzen kaum. Wie konnte es sein, dass diese Menschen, die ihm doch so nahe standen, welche er doch so schätzte und respektierte; wie konnte es sein, dass seine Liebsten eine solche – exgüsi für den Ausdruck – Katerkacke erzählten?! Vielleicht konnte ihm ja der Medicus weiterhelfen; immerhin sollte jener doch sicherlich ein grosses Wissen besitzen... Doch der Arzt des Dorfes mahnte mit erhobenem Finger: „Würden wir keine Tiere essen, so bestünde eine ernsthafte Gefahr, dass wir aufgrund von Mangelerscheinungen stürben.“ Der Prinz schaute ihn ungläubig an. Der Arzt, der einen dicken Bauch, kleine Wurstfinger und ein blasses Gesicht – irgendwo zwischen gräulich und gelblich – hatte; er, der sich so gerne Würste, Steaks und Schnitzel reinstopfte; er wollte ihm, dem Prinzen, der nur hin und wieder aus sozialem Druck heraus etwas Fleisch ass, und zu den stärksten Menschen im Land gehörte, erklären, was gut für Gesundheit und Körper ist?! „Du fette Kröte“, entfuhr es dem Prinzen, mehr zu sich selbst sprechend. „Was hast du gesagt?“, wollte der Medicus mit düsterer Miene wissen. „A-ach nichts, ich meinte bloss 'du nette Flöte'... Das sagt man halt so unter den Jungen...“, versuchte sich der Prinz zu retten und verliess den Raum mit einer übertriebenen Verbeugung. Wer nur könnte ihm eine kluge Antwort geben, fragte sich der Prinz, mittlerweile sichtlich enttäuscht. Er hatte sich durch das halbe Dorf gefragt und hatte beinahe schon die Hoffnung aufgegeben, da hörte er ein fröhliches Pfeiffen aus der Ferne, gefolgt von einem erquickenden, tierlichen Laut. Die Geräusche kamen offenbar von einem der zahlreichen Bauernhöfe des Königreichs. Der Prinz näherte sich langsam jenem Hof, von welchem er die Laute vermutete und landete schliesslich vor einer dicken Holztür, worüber in grünen Buchstaben geschrieben stand: Lebenshof Utopia. Behutsam schlich der Prinz um das Anwesen herum, bis er schliesslich die Quelle der gepfiffenen Melodie erspähte: Es war ein junger Landwirt, der gerade mit einigen Ferkeln spielte, welche ganz ausgelassen grunzten. Kurz schaute der Prinz entzückt dem Treiben zu, bevor er schliesslich mit neugierigem Ton sprach: „He du, weshalb spielst du mit den Schweinen wie Andere mit ihren Hunden?“ Der Bauer, zunächst etwas irritiert über den überraschenden Besuch, erklärte ihm mit bestimmter Stimme: „Weil Schweine so klug wie Hunde sind. Und weil Schweine auch genauso verspielt sind. Und weil sie auch die genau gleichen Schmerzen und Freuden empfinden können.“ Der Prinz war sprachlos. Wieso hatte ihm bis zu diesem Moment niemand eine vernünftige Antwort geben können? „Wie heisst du?“, wollte der Prinz wissen. „Mein Name ist Ed, eure Hoheit“, antwortete der junge Herr. „Ach, ich bitte dich, nicht so förmlich!“, entgegnete der Prinz. „Aber erkläre mir doch mal, was so ein Lebenshof überhaupt ist?“ „Nun, das ist ein Bauernhof, wo wir nur Früchte, Gemüse, Getreide, Hülsenfrüchte und andere Pflanzen für den Verzehr anbauen. Alle Tiere auf diesem Hof können jedoch tun und lassen, wie sie wollen. Sie haben keinen „Nutzen“ mehr, sondern werden als das wahrgenommen, was sie eigentlich sind: Als nicht-menschliche Individuen.“ Der Prinz war sehr interessiert an dieser Art des Landwirtschaftens und wollte alles darüber erfahren – und natürlich auch über diesen sogenannten Veganismus; diese Ernährungsform, die offenbar den Tieren möglichst wenig Leid zufügen möchte. So verbrachten Prinz Herzensgut und Ed viele Tage gemeinsam und diskutierten stundenlang über Mitgefühl, Moral und das Verhältnis von Mensch und Tier. Auch hatte er schon lange nicht mehr so lecker gegessen wie bei diesem aussergewöhnlichen Landwirt. Einige Wochen ging dies so weiter, so dass sich die Königin und der König langsam fragten, was denn da mit ihrem einzigen Sohn los sei. „Denkst du, er hat ein Auge auf eine hübsche Dame geworfen?“, fragte die Königin ihren Gatten. „Wer weiss, wer weiss... Aber wir müssen auf der Hut sein: Der Prinz darf sich nur mit edlem Blut vermählen. Vielleicht müssten wir proaktiv werden und unserem Sohn eine passende Gemahlin suchen.“ meinte der König mit besorgter Miene. So schickten sie zahlreiche Boten in die weite Welt hinaus, mit dem Auftrag, dem Prinzen Herzensgut eine passende Frau zu suchen. Währenddessen stellten die beiden Herrschenden ihren Sprössling zur Rede: „Sohn, was ist bloss los mit dir? Dein Verhalten ist gänzlich anders als noch in letzter Zeit.“ „Mutter, Vater, ich muss euch was sagen: Ich bin nun... Veganer!“, erklärte der Prinz seinen Eltern mit leicht nervösem, aber nachdrücklichem Ton. „Was? Veganer? Um Himmels Willen! Wie kannst du das deinen Eltern bloss antun?“, entfuhr es der Königin. Und auch der König stimmte mit ein in das Klagelied: „Oh weh, mein Sohn, ein Extremist! Welch' Schmach für ein Königreich wie das uns'rige!“ Aber weder verzweifelte Bitten noch haltlose Drohungen konnten den Prinzen von seiner Überzeugung und seinem eingeschlagenen Weg abbringen. „Nun denn, so sei es halt. Aber lass uns wenigstens über deine zukünftige Frau entscheiden!“, betonte der König leicht resigniert am Ende des Gesprächs. Der Prinz widersprach nur deshalb nicht, weil er glaubte, dass er seinen Eltern wohl schon zu viel Kummer an diesem Tag bereitet hatte. So musste er halt den passenden Zeitpunkt abwarten, um sich hinsichtlich dieses Anliegens seinen Eltern zu widersetzen. Nur kam dieser Moment nie, so dass sich Prinz Herzensgut bald schon seinen Heiratskandidatinnen stellen musste, welche seine Eltern für ihn aufgeboten hatten. Doch egal, wie liebevoll, loyal, empathisch, attraktiv oder klug diese Frauen auch waren; irgendwie vermochte ihn keine so richtig zu überzeugen, weshalb er sich gegen alle entschied. Wiederum machten sich seine Eltern Sorgen und beschlossen, ihrem Sohnemann noch mehr Mitbestimmungsrecht zu geben. „Nun, wir sehen ein, dass unsere Form der Partnerschaftsvermittlung womöglich etwas archaisch wirkt – besonders im Zeitalter von Tinder und Co... Du hast natürlich recht: Du sollst auch über deine zukünftige Gattin mitbestimmen können. Aber du musst uns bloss Eines versprechen, und zwar, dass du dich bis zum Stichtag, welchen wir gleich abmachen werden, definitiv entscheiden wirst. Dies ist unsere einzige Bedingung.“ „Abgemacht!“ sagte der Prinz und gab seinem Vater, dem König, das Ehrenwort. Bald darauf wurde veranlasst, eine offizielle Ausschreibung anzufertigen, wo sich jede passende Kandidatin bewerben durfte. Von diesen gab es übrigens ausserordentlich viele – nicht etwa weil der Prinz ein gutaussehender, junger Mann war, sondern weil sich herumgesprochen hatte, was für ein grosses Herz der Prinz für alle Tiere – inkulsive seinen Mitmenschen – hatte. Diese Charaktereigenschaft in Kombination mit einem klugen Köpfchen machte den Prinzen unglaublich begehrenswert. Einige Wochen später war der grosse Tag da und zahlreiche Menschen von nah und fern versammelten sich im Hofe des Schlosses. Die Stimmung war ausgelassen und das ganze Dorf wartete gespannt auf den Entscheid des Prinzens. Zunächst musste sich aber jener zuerst mal in einem regelrechten Speeddating-Verfahren durch alle Kandidat*innen kämpfen. Am Ende des Tages war Prinz Herzensgut deshalb komplett erschöpft und müde. Dennoch stand die grosse Entscheidung noch vor ihm. Und als er so in den imposanten Thronsaal trat, wo sich alle Schaulustigen aufhielten, wurde ihm schon etwas mulmig zumute. „Nun, Sohn, hast du dich entscheiden können?“ fragte die Königin voller Neugier und Ungeduld. Der Prinz zögerte kurz und liess seinen Blick noch einmal aufmerksam durch die Reihen streifen. Dann wandte er sich wieder seiner Mutter zu, die ihn immer noch fragend betrachtete. „Ja, hab ich.“ Das Publikum reagierte mit einem kleinen Applaus und vereinzelten Jauchzern. Als wieder etwas Ruhe einkehrte, fuhr der König fort: „Nun, spann' uns nicht länger auf die Folter. Wer ist es?“ Der Prinz antwortete in ruhigem Ton. „Meine Wahl...... fällt auf..........“ „.......Ed!“ Durch das Publikum ging ein Raunen. „Wie bitte? Der Landwirt von diesem alternativen Bauernhof?“ fragte der König verdutzt nach. „Jawohl“, antwortete der Prinz geduldig. Die überforderte und verwirrte Königin richtete sich nun auch an den Prinzen: „Aber das heisst ja dann wohl... ähm... dass... du...ähm...“ „Ja, genau, homosexuell bin.“ Das Geflüster unter den Zuschauenden wurde noch lauter. „Tut mir leid, Mutter“, sprach der Prinz. „Ich wollte es euch beiden schon lange sagen, aber ihr wart ja immer noch ganz verstört von meinem „Coming Out“ als Veganer, da wollte ich euch nicht noch die nächste Überraschung aufbürden. Aber ja, so ist es nun mal, ich bin schwul und ich habe mich in den letzten Monaten in Ed verliebt. Also entweder akzeptiert ihr das oder ich werde dieses Königreich gemeinsam mit ihm verlassen.“ Auch wenn sich das Königspaar den Abend etwas anders vorgestellt hatte, respektierten die beiden natürlich die Wahl des Prinzen und gratulierten ihm und seinem neuen Gemahlen von Herzen; wie es sich gehört für liebende Eltern. Und auch die Bürger*innen des Königsreichs gewöhnten sich rasch daran, dass es nun halt statt einer Prinzessin einen zusätzlichen Prinzen gab. Schliesslich hatten die beiden auch viele gute Ideen, wie man die Welt – oder zumindest das Dorf – etwas besser machen könnte: Reiche mussten mehr von ihrem Geld an Arme abgeben; Fehden mit anderen Königreichen wurden niedergelegt und Frieden geschlossen; das Abwassersystem wurde verbessert, Wertstoffe wurden wiederverwendet und es wurde ausserdem viel Geld in die Forschung und die Bildung investiert, so dass der gute Ruf des Königreichs bald bis in die hintersten Ecken der weiten Welt hinaus eilte. Und natürlich erliess das Prinzenpaar auch ein Gesetz, das den nicht-menschlichen Tieren mehr Rechte zugestand, so dass es bald verpönt und gar rechtswidrig war, wenn man Kühen, Schweinen, Hühnern usw. irgendwelchen Schaden zufügte. So prosperierte das Königreich bald so sehr, dass der König und seine Königin den Thron vorzeitig ihrem Sohn, dem Prinzen Herzensgut, und seinem Ehemann, dem Prinzen Ed, vermachten. Und noch heute, lange nachdem das glückliche Paar irgendwann verstorben war und ihre Nachkommen ihre friedfertigen und altruistischen Botschaften von Generation zu Generation weitergegeben hatten, sprach man noch vom einzigartigen König Herzensgut und seinem Ed, den Vordenkern des ersten veganen Königreichs – wo Mensch, Tier und Natur gemeinsam und glücklich lebten. THE END
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Wir lieben Helden.
Schon seit jeher. Egal, ob in den verschiedenen Religionen, in alten Sagen und Märchen oder in aktuellen Filmen und Serien. Man schaue sich nur an, wie viele Superhelden-Filme alleine im Jahr 2018 herausgekommen sind: Spider Man: Into The Spider-Verse, Venom, Ant-Man And The Wasp, Avengers: Infinity Wars, The Incredibles 2, Black Panther, Aquaman und Deadpool 2 (wobei es sich bei letzterem natürlich eher um eine Persiflage dieses Genres handelt). Und doch haben wir uns auch immer stärker von ihnen distanziert. Oder sie an uns gelassen – je nach Betrachtungsweise. Früher haben wir Helden wortwörtlich vergöttert und sie zu makellosen Ikonen stilisiert; zumindest nachdem die Menschheit die ungeschliffenen, randalierenden, griechischen Götter hinter sich gelassen hatte. Das prominenteste Beispiel diesbezüglich ist wohl Jesus, der als Sohn Gottes nahezu perfekt (oder zumindest in seiner Unperfektheit perfekt) dargestellt wurde. Dieses Kultivieren des vollkommenen Helden (und des durch und durch bösen Antagonisten) zog sich lange Zeit so weiter; denn damit konnte man auch dem einfachen Volk klar machen, wer gut und wer böse ist. Doch wie ich bereits im letzten Blogpost, Der Kampf um das Wissen, geschrieben habe, hatte diese Art von Verherrlichung auch etwas Naives und Undifferenziertes. So war es – wenn wir in der Zeitgeschichte etwas nach vorne springen – in vielen Kreisen verpönt, Leute wie Mutter Theresa, Mahatma Gandhi und Co. zu kritisieren, da sie die Helden jener Jahrzehnten waren. Es herrschte quasi Konsens darüber, dass diesen Menschen etwas „Heiliges“ anhaftete. Erst später wagte man sich, genauer hinzuschauen. Mutter Theresa, die 1979 mit dem Friedensnobelpreis für ihren „löblichen Umgang mit Armen und Mittellosen“ ausgezeichnet wurde, hatte sich beispielsweise in ihren „Krankenhäusern“ kaum um deren Leiden gekümmert, so dass diese unter katastrophalen Zuständen bis zu ihrem Tod dahinvegetierten – häufig ohne Schmerzmittel, welche untersagt waren. Ausserdem soll massenhaft Geld veruntreut worden sein; gemäss Untersuchungen landete es regelmässig in den Händen obskurer Organisationen oder politischer Führer. Nur dank einer gigantischen PR-Kampagne seitens der katholischen Kirche flogen diese Umstände nicht früher auf. Auch Mahatma Gandhi könnte man dafür kritisieren, dass er das unmenschliche Kastenwesen in Indien nicht wirklich zu auflösen gedenkte, sondern sich lediglich damit beschäftigte, die Briten aus Indien zu vertreiben; dass er zumindest in seinen jungen Jahren rassistische Ressentiments gegenüber Dunkelhäutigen hatte; und ausserdem sehr voreingenommen war, was das weibliche Geschlecht und die Sexualität der Frau anbelangte. Auch wenn man nicht vergessen sollte, dass man Menschen und deren Handeln immer im Kontext ihrer Zeit betrachten sollten, hat diese Kritik natürlich ihre Berechtigung. Nichtsdestotrotz stimmt wohl auch hier, was ich im letzten Blogpost geschrieben habe: Das Gegenteil von naiver Leichtläubigkeit sollte nicht tiefes Misstrauen [in Vorbilder und Helden], sondern ein gesunder Skeptizismus [und eine differenzierte Betrachtungsweise] mit einem Grundvertrauen [in das Gute] sein. Doch unsere Enttäuschung in diese vermeintlichen Helden war und ist womöglich so gross, dass wir uns vermehrt Anti-Helden oder lasterhafte Idole erschufen. Dies sieht man zum Beispiel, wenn man die Hauptfiguren in Serien wie True Detective, Fargo, Breaking Bad, Bojack Horseman oder Superhelden von heute betrachtet. (Teilweise werden die Rollen gar vertauscht, so dass wir plötzlich mit den eigentlichen Bösewichten sympathisierten wie beispielsweise mit Pablo Escobar in Narcos.) Makellosigkeit ist also out. Stattdessen lautet das Motto des 21. Jahrhunderts: Lasst uns unsere perfekten Helden beerdigen und stattdessen die griechischen Götter zurückholen! Sollten wir in einem aktuellen filmischen Werk doch mal einem Helden mit weisser Weste begegnen (ich wüsste allerdings abgesehen von Kinderfilmen von keinem solchen Helden oder keiner solcher Heldin...), wirkt dieser meist aalglatt und unrealistisch. Wir sehnen uns nach dem Helden, der trinkt, flucht und Scheisse baut. Wahrscheinlich fühlen wir uns dann dem Protagonisten näher, weil wir ja auch alle unsere Fehlerchen haben. Leider wird diese Haltung mittlerweile häufig auf die Spitze getrieben, wenn nämlich jedes potenzielle Vorbild gleich auf Ungereimtheiten gescannt und anschliessend diskreditiert wird. Hat man dann was gefunden, was man kritisieren könnte – und man findet garantiert bei jedem Menschen irgendeinen Kritikpunkt (selbst wenn er noch so klein und irrelevant ist) –, dann wird dessen Credibility gleich komplett abgewertet. Dieses Scheinargument nennt sich übrigens „Argumentum ad hominem“. So geschehen bei einem der – meines Erachtens – grössten Inspirationen unserer Zeit: Greta Thunberg. Weil man sie nämlich auf einem Foto beim Mittagessen (sie ernährt sich aus ökologischen Gründen nur noch vegan) auf der Zugfahrt in die Schweiz (sie ist nicht wie die meisten der WEF-Gäste mit dem Privatjet nach Davos geflogen) mit Plastikbesteck sieht, wurde sie von zahlreichen Personen sogleich als Heuchlerin bezeichnet. Ergo könne man sie und ihre Forderungen generell nicht mehr ernst nehmen, so die gängige Haltung zahlreicher konservativer Kräfte. Dass eine solche Grundeinstellung geradezu armselig ist, entlarvt glücklicherweise der grösste Teil der Gesellschaft. Immerhin haben wir es einerseits bei der oben-genannten Person nicht nur mit einer Aktivistin im Jugendalter zu tun, wo wir bei anderen Pubertierenden schon deutlich gröbere Ungereimtheiten durchgehen lassen und liessen (man denke sonst einfach mal an die eigene Jugend zurück...). Andererseits sind die Anschuldigungen (i.e. etwas Plastikabfall auf einer langen Zugreise) im Vergleich zu ernstzunehmenden Anschuldigungen wie beispielsweise bei Mutter Theresa regelrecht lächerlich. (Übrigens könnte man auch durchaus die Kritik an Gandhi kritisieren, indem man den Perfektionsanspruch und das Whataboutism-Argument herausfiltert; denn es wäre wohl ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, sich gegen die Herrschaft der Briten aufzulehnen und gleichzeitig noch das Kastensystem abzuschaffen. Gandhi hat insgesamt trotzdem mehr Gutes erreicht als Schlechtes getan [oder genauer: noch mehr Gutes nicht getan].) Dieser Perfektionsanspruch und die gleichzeitige Verteufelung davon findet man aber nicht nur bei Personen von öffentlichem Interesse: Auch viele meiner Aktivisten-Freund*innen nehmen diese übertriebene Kritik häufig war. Und wenn man sich wie ich regelmässig in der Öffentlichkeit oder auf Social Media zu gesellschaftskritischen oder moralphilosophischen Themen äussert, kriegt man die volle Ladung an Hass und Frustration ab. Meistens übrigens von Leuten, die weit davon entfernt sind, einen nachhaltigen Lebensstil zu pflegen und zum Beispiel jährlich mindestens einmal in die Ferien fliegen, in einem Einfamilienhaus auf dem Land wohnen, mit Erdöl heizen, täglich Auto fahren, mehrere Kinder auf die Welt gesetzt haben, regelmässig Fleisch und tierische Produkte verzehren, zahlreiche Konsumprodukte kaufen, sich nicht mit der Herkunft von Kleidern und technischen Geräten beschäftigen etc. pp. Wieso die Wutbürger dann besonders hart zuschlagen, liegt auf der Hand: Allein die Existenz von Veganer*innen, Flugverweiger*innen oder Zero-Wastler*innen beweist, dass ein nachhaltigeres Leben möglich wäre. Und dies führt automatisch zu einer Asymmetrie, da die meisten Menschen sehr wohl wissen, dass fliegen umweltschädlich ist, Fleisch essen zu Tierleid führt und wir zu viel Abfall produzieren. Statt sich also einzugestehen, dass man noch einen langen Weg vor sich hat; dass niemand perfekt geboren wurde und es viel Disziplin und Wille braucht, um sein Verhalten ethischer und nachhaltiger zu gestalten; dass es glücklicherweise Leute gibt, von denen man noch viel lernen kann, auch wenn sie höchstwahrscheinlich auch nicht perfekt sind; dass man in einer Welt, in der es aussieht, als wären wir gerade zuoberst auf der Achterbahnfahrt (kurz bevor wir in die Tiefe stürzen), unbedingt Inspirationsquellen und Hoffnungsträger*innen braucht... Stattdessen opfern wir lieber unsere Helden. Damit wir uns besser fühlen. Zumindest bis zur Katastrophe. Dann werden wir wohl laut nach einem Helden rufen, der uns alle retten möge. Aber die Helden sind längst unter uns. Wir müssen ihnen bloss zuhören. Oder die Helden in uns selber erwecken. |
SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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