Wieso ich gerne Lehrer bin?
Man kann den Schüler*innen irgendwas erzählen und sie glauben es... Bevor jetzt aber gleich die erste Shitstorm-Lawine über mich fegt, weil bei einem schriftlichen Text der ironische Unterton häufig etwas unter geht, möchte ich betonen, dass ich regelmässig den Schüler*innen erkläre, wie wichtig es ist, selbstständig und kritisch zu denken und Wissen hinterfragen zu können - auch jenes von Lehrpersonen. Gleichwohl ist es spannend, wie gross offenbar das Vertrauen in das Wissen der Lehrperson ist. Sage ich nämlich etwas in meinem fachspezifischem Gebiet (Musiktheorie, -geschichte, -kultur etc. pp.) wird diesen Aussagen ohne wenn und aber Glauben geschenkt. Ein wenig anders verhält es sich übrigens, wenn ich über etwas spreche, was ich nicht in meiner Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule erlernt hatte (z.B. zum Fach Geografie oder Biologie), dann bröckelt meine Credibility schon etwas Dieser Effekt lässt sich in der Erwachsenenwelt noch deutlich stärker beobachten: Erörtere ich meinen Mitmenschen irgendwelche pädagogischen Konzepte, dann werd ich „wohl schon recht haben“ (immerhin müsste ich nach fünf Jahren Studium ein Pädagogik-Experte sein...); dreht sich das Thema hingegen um Klimawandel, Ernährung, Mobilität, Politik und Co. winken einige Gesprächstpartner*innen ab. Dies ist insofern absurd, da ich mich in den letzten paar Jahren so intensiv mit oben-genannten Themen beschäftigt habe, dass ich diesem Wissen fast mehr trauen würde als jenen pädagogischen Kentnissen, die ich vor fast einem Jahrzehnt nach Abschluss des Masterstudiums erlernt (und mittlerweile teilweise wieder vergessen) hatte. Doch die Angelegenheit ist noch weitaus schlimmer als meine persönlichen Erfahrungen: Denn wir leben ganz allgemein in einer Zeit, in der das Vertrauen in das Wissen sinkt – und diese „Wissenskrise“ ist grösser, als viele womöglich denken. Denn während mein pädagogisches Wissen als Lehreperson in der Regel unantastbar bleibt, haben es andere „Experten“ wie beispielsweise Klimaexperten ungemein schwerer; offenbar sind gewisse Lebensbereiche stärker von dieser Krise betroffen als andere. Dies sieht man beispielsweise auch, wenn sich Republikaner und Demokraten gegenseitige „Fake News“-Anschuldigungen zuschieben (z.B. bzgl. Mauern und Migrationsthemen); wenn unterschiedliche Zahlen zum CO2-Ausstoss von Flugreisen, Fleisch und Co. debatiert werden; oder wenn es um eine der zahlreichen „Verschwörungstheorien“ des 21. Jahrhunderts geht (Stichworte: Chemtrails, Impfgegner, Flat-Earth etc.). Da stellt sich natürlich die Frage: Wie kann es sein, dass selbst grundlegenste Dinge wie die Form der Erde oder die Gravitationskraft sowie breit abgestütztes Fachwissen wie Klimawandel (über 97% der fachspezifischen Experten sind überzeugt davon, dass es diesen gibt und er menschengemacht ist) hinterfragt werden – und das in einer Zeit, in der Wissen so einfach verfügbar war, wie noch nie. Darin liegt allerdings schon die erste Antwort begraben: Das Internet ist überflutet mit Wissen oder eben Scheinwissen. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass heutzutage jede*r theoretisch eine Behauptung aufstellen und veröffentlichen kann. In einer fernen Zeit, als man noch den Umweg über einen Buchverlag, eine Zeitungsredaktion etc. gehen musste, um irgendetwas der Öffentlichkeit kundzutun, wurde „Wissen“ vor der Veröffentlichung in der Regel zuerst extern geprüft. Heute kann man hingegen einen Post auf einer Social Media Plattform machen, ohne gross daran gehindert zu werden [zum Beispiel diesen hier ;-)]. Und wenn man noch etwas Geld in die Hand nimmt, lässt sich der Beitrag auch weit und sehr effektiv streuen. (Natürlich konnte man sich auch schon früher auf die Strasse stellen und Bullshit verbreiten, aber heute kann man es weitaus professioneller.) Ein weiteres Problem gesellt sich allerdings noch dazu: Denn die Wissenkrise ist auch eine Krise der Wissenschaft. Früher schenkte man den Erkentnissen einer neuen Studie oder den Worten eines Staatsoberhauptes einfach Glauben. Der Gedanke, dass da Falschinformationen weitergegen werden könnten, lag für einen Grossteil der Bevölkerung schlicht nicht auf der Hand. Heute haben wir glücklicherweise diese naive Leichtgläubigkeit überwunden und erkennen, dass Politiker hin und wieder die Wahrheit verbiegen, um politische Entscheide durchzubringen, oder dass gewisse Studien von Lobbys (mit)finanziert wurden und sich dieser Interessenskonflikt auch in den Resultaten widerspiegelt. Aber das Gegenteil von Leichtläubigkeit sollte nicht tiefes Misstrauen, sondern ein gesunder Skeptizismus mit einem Grundvertrauen in Expertenwissen sein. Dass dies in einer Zeit, in der ein namhafter Präsident konstant Lügen von sich gibt und wir schon fast überrascht sind, wenn sich mal ein Körnchen Wahrheit in dessen Aussagen befindet, nicht immer einfach ist, liegt auf der Hand. Doch nochmals zurück zu den Studien: Statt diese nämlich etwas genauer zu betrachten oder sich auf Metastudien zu stützen, ist eben auch dort das Vertrauen in das Wissen verloren gegangen; was ja auch irgendwie verständlich ist: Manchmal fühlt es sich an, als müsste man einen Bachelor in Statistik und ein fundiertes Fachwissen benötigen, um gewisse unterschiedliche Studienergebnisse auch wirklich prüfen zu können. Das ist vielen zu doof und sie geben sich ihrer „Wissensresignation“ hin. Und genau in diesem Vakuum können dann „alternative Theorien“ keimen. Plötzlich werden aus scheinbar auffälligen Kondensstreifen gefährliche Chemtrails – auch wenn man deren Breite, Dichte, Dauer etc. auf naturwissenschaftliche Gesetze zurückführen kann. (Wer mir nicht glaubt, solle sich nur schon mal ein paar Bücher über die grosse Vielfalt von [von Natur aus] unterschiedlichsten Wolkenarten anschauen.) Dass dieses „Anything-Goes“-Wissen ein grosses Problem darstellt, ist offensichtlich. Was nützt es nämlich, wenn ich in Diskussionen zum Klimawandel, zur Nutztierhaltung, zur Textilindustrie, zu Recyclingthemen usw. objektive Fakten und eindrückliche Zahlen präsentiere, wenn entweder eine Wissensverdossenheit meine Mitmenchen quält oder diese einfach andere Fakten und Zahlen in die Diskussion hineinwerfen? Wenn „wissen“ immer stärker als „glauben“ (fehl)interpretiert wird, müssen wir wohl oder übel versuchen, wieder das Vertrauen in die Wissenschaft herzustellen - und da wären wir wieder beim anfänglichen Thema der Bildung. Denn bisher wurde diese Wissenskrise einfach als unbedeutend abgetan und man glaubte/hoffte, dass die Bürger*innen wahr von falsch unterscheiden könnten. Im digitalen Zeitalter müssen wir aber die Fähigkeit, Wissen zu kontrollieren und zu prüfen offensichtlich noch stärker vermitteln. Und das kann nicht gelingen, wenn unser Bildungssystem zu einem grossen Teil darauf aufgebaut ist, lediglich Wissen zu reproduzieren anstatt selber zu erarbeiten. Stellt sich jedoch die Frage, was wir denn mit all den Menschen machen, die nicht mehr zur Schule gehen und an ihren teilweise abstrusen Glaubenssystemen festhalten. Und da sehe ich einen Ansatz in dem, was ich bereits im Blogpost „The Activism Of Being Nice“ angedeutet habe: Man muss sich individuell mit den Menschen beschäftigen und ihre Meinungen ernst nehmen. Wenn wir diese Leute nämlich einfach als ignorante Trottel abstempeln, verlieren wir deren Kontakt komplett und sie nisten sich in ihren Social Bubbles ein, welche sehr schwierig zu durchbrechen sind. Stattdessen müssten wir ihnen eigentlich zuhören und allfällige Wahrheiten in ihren Theorien anerkennen (in „Verschwörungstheorien“ steckt fast immer ein Körnchen Wahrheit), aber auch die Denkfehler möglichst neutral und mitfühlend erklären - also nicht nur eine verlässliche Quelle oder Studie in die Runde werfen, die das Scheinwissen widerlegt. Neben der differenzierten Prüfung des Wahrheitsgehalts von Aussagen unserer Gesprächspartner*innen, müssen wir allerdings auch anerkennen, dass teilweise mehrere Parteien recht haben könnten (bspw. bewegt sich der Anteil von für die Nutztierhaltung gerodeter Amazonas-Regenwald so zwischen 90% und 60% - je nach Studie, Ort, Jahr etc.) oder die Wahrheit doch nicht ganz so klar ist, wie man manchmal denkt (z.B. ist die Entstehung des Universums durch den Big Bang ebenfalls nur eine Theorie; auch wenn diese Vermutung realistischer ist, als dass ein allmächtiger Gott das Sonnensystem in sieben Tagen erschaffen hat). Und vielleicht müssen die pragmatischen Intellektuellen unter uns – zu welchen ich mich auch ein bisschen zähle – lernen, dass wir eben Fakten nicht einfach so auf den Tisch knallen können, sondern dass wir sie offenbar in einen narrativen Kontext stellen müssen. Bei den äusserst beliebten TedX-Vorträgen wird beispielsweise auch immer eine Geschichte um neue Erkenntnisse oder alternative Überlegungen herum erzählt. Denn letztendlich sind wir Menschen eben keine vernünftigen Supermenschen, wie dies Immanuel Kant zu glauben schien, sondern überforderte Alltagsmenschen, welche mit der Fülle an unterschiedlichsten Informationen und externen Einflüssen nicht wirklich klar kommen. Wie wir genau diesen Kampf um das Wissen entschärfen können, kann ich abschliessend auch nicht sagen – immerhin sind selbst Regierungen oder mächtige, finanzstarke Unternehmen wie Facebook und Co. damit überfordert. Jedoch scheint mir der Weg über die Bildung und Aufklärung eine der erfolgversprechendsten Ansätze zu sein. Wieso ich gerne Lehrer bin? Deshalb.
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