Vor zwei Wochen versuchte ich aufzuzeigen, wieso wir in unserer Handlungsfreiheit nicht so frei sind, wie wir häufig meinen (und gerne wären). Beim Aufzählen dieses Katalogs vermeintlicher „persönlicher Entscheide“ wird wohl auch ersichtlich geworden sein, wie viele unserer Handlungen aus einer ethischen Perspektive häufig leider bedenklich sind. Da wir nun also plötzlich viele Minenfelder vor uns sehen, wo vorher noch keine waren, kann unser Verhalten dadurch massiv eingeschränkt werden, was zu einer Art kurzfristigen Paralyse des Handelns führen kann - zumindest wenn wir die negativen Konsequenzen unserer Entscheidungen wirklich ernst nehmen. Da wir jedoch meistens nicht selber die Explosion der Mine spüren, auf welche wir versehentlich (oder bewusst) treten, werden einige Personen, welche jetzt nicht gerade vor Empathiefähigkeit strotzen, kaum ihr Verhalten ändern. Ausserdem kann aus dieser Erkenntnis auch eine fatalistische Haltung resultieren – ganz im Sinne von: „Egal, wie ich handle, ich werde sowieso Leid verursachen!“ So kann beispielsweise das Planen eines freien Wochenendes zur Herkules-Aufgabe (mit teils absurden Abwägungen) werden: Städtetrip im Ausland? Aber das Fliegen weist eine schlechte Ökobilanz auf. Und mit dem Zug dauert es länger und ist zu teuer (oder korrekter forumliert: Flugreisen sind viel zu billig). Dann halt einfach in die nächst-grössere Stadt durch die Einkaufsstrassen flanieren. Kaufrausch im Kleiderladen? Heikel, da Kinderarbeit und miserable Arbeitsedingungen für Menschen in Bangladesch und Co. Also doch lieber bloss etwas trinken gehen. Kaffee? Auch nicht unproblematisch, die Kakaoproduktion in Südamerika... Dann halt eine Cola? Grosses, unsympathisches Unternehmen mit Getränkemarktmonopol und hohem Energieverschleiss (Flaschenproduktion, Kühlung, Transport etc.). Nun, dann halt direkt zum Essen übergehen. Besuch im Steakhouse? Führt zu Tierleid, Ressourcenverschleiss, ökologischen Katastrophen und zerstört Lebensräume von zahlreichen Lebewesen. Vielleicht also doch lieber zum vegetarischen Thai-Restaurant. Ananas-Curry mit Kokosmilch? Schlechte CO2-Bilanz aufgrund langer Transportwege der Zutaten. Okay, heute halt Fasten und Abendprogramm Zuhause. Die neuste Netflix-Serie schauen? Braucht Strom und Energie (Internetverbindung, Datenübertragung, technische Geräte usw.); ausserdem häufig Diebstahl und fehlende kulturelle Wertschätzung durch illegalen Download. Buch lesen? Papierverschleiss. E-Book? Strom. Gut, dann halt direkt ins Bett (wo schon die mit Tierleid gefüllte Daunendecke wartet)! In einem solchen fiktiven, aber realistischen Szenario wünschte man sich womöglich, es gäbe einfach einen „Reset Button“, also einen Knopf wie bei alten Videospiel-Konsolen, mit welchem man das ganze Spiel neu starten kann. Dann könnten wir erstens mal einfach innehalten und mit unserem "Nichtstun" vorübergehend weder zerstören, verletzen noch töten; und zweitens wäre es dadurch vielleicht möglich, gewisse Prozesse in der Vergangenheit zu ändern und zukünftige problematische Verhaltensweisen zu umgehen. Schliesslich handelt es sich bei vielen dieser ethisch fragwürdigen Handlungen um schlicht unhinterfragte Gewohnheiten, welche tief in unserer Gesellschaft verankert sind. Nun gibt es diesen Knopf in der tatsächlich existierenden Welt leider nicht (zumindest habe ich ihn noch nicht gefunden); aber viel spannender als die effektive Existenz eines solchen Knopfes ist doch die Frage: In welchem Abschnitt des „Spiels“ würden wir starten wollen (also ab welchem Zeitpunkt hat der „Spiel“verlauf eine schlechte Entwicklung genommen)? Oder anders gefragt: In welcher Welt wollen wir eigentlich leben? Für die Entstehung einer gerechteren, leidfreieren Welt scheint diese Frage unabdingbar und dennoch stellen wir sie uns viel zu selten. Meistens nehmen wir die Dinge einfach so hin wie sie sind und versuchen entweder unser Verhalten irgendwie rechtzufertigen (diesbezüglich sind wir übrigens äusserst begabt) oder höchstens minimale „Schönheitskorrekturen“ an den problematischeren Bedingungen zu verändern. Wenn also beispielsweise H&M eine „Conscious Line“ entwirft und eine geringe Anzahl Textilien neu zur Hälfte aus Bio-Baumwolle auf den Markt bringt, dann handelt es sich bei diesem wenig relevanten, kosmetischen Eingriff wohl kaum um eine altruistische, effektiv leidvermindernde Handlung, sondern eher um „Greenwashing“, also um blosse Marketingstrategie (damit die Bevölkerung mit scheinbar gutem Gewissen weitere Shopping-Exzesse erleben kann). Ebenso wenn man den Tieren in Pelzfarmen statt einer Fläche von knapp zwei A3-Seiten nun neuerdings die doppelte Grundfläche bei Käfigen zur Verfügung stellt. Das ändert nichts daran, dass zum Beispiel Amerikanische Nerze grundsätzlich Einzelgänger sind, mit einem Territorium von bis zu 800 Hektaren (= 8 Quadratkilometer!) und auch gerne mal schwimmen gehen und dabei bis zu sechs Metern tief tauchen können. Stattdessen müsste man sich also kritisch fragen, wie ein gesamthaft nachhaltiges Konzept in Sachen Textilindustrie aussehen könnte/müsste: Neben fairen Löhnen, funktionierenden Gewerkschaften in Drittweltländern, höheren Textilpreisen, weniger Kaufanreize für „Binge-Shopping“, ökologischeren Materialien und weniger Verwendung von Chemikalien bei der Produktion, müsste man natürlich auch Überlegungen zu Recycling (mehr Second-Hand) und Upcycling (mehr Modeartikel aus rezyklierter Baumwolle) anstellen. Beim Thema Pelz wäre die Sache eigentlich etwas einfacher; immerhin kann kaum jemand tatsächlich hinter der schrecklichen Praxis von Pelzfarmen stehen, welche ja über drei Viertel des weltweit gehandelten Pelzes ausmachen. Ein Verbot solcher Farmen wäre wohl also nicht nur im Interesse der gefangenen Tiere, sondern auch in unserem eigenen, moralischen Interesse. Und da auch die Fallenjagd (z.B. bei Kojoten) ziemlich wüste Szenen verursacht und der Anteil an durch das Jagdgewehr – zumindest in der Theorie – rasch erlegten Tiere sehr gering ist, könnte man sich überlegen, ob ein generelles Pelzverbot womöglich nicht sogar das erstrebenswerte (und eigentlich nicht unrealistische) Ziel für eine ethischere Welt wäre. Solche Gedankenspiele kann und soll (!) man übrigens auch machen, wenn man mit seinen Handlungen noch Leid unterstützt. Denn eine einsichtige, reflektierte Person, die Echtpelz trägt, wird wohl auch zugeben müssen, dass eine Pelzfarm-freie Welt eine bessere Welt wäre und dass man Pelz trotz des Wissens über die katastrophalen Zustände im Bereich der Tierhaltung überhaupt nur kauft, weil es halt einfach verfügbar und möglich ist (und man selbst nicht im Käfig sitzt). Genauso verhält es sich mit anderen Problemen in der Welt: Massentierhaltung? Kann eigentlich niemand wirklich unterstützen wollen, wenn er/sie nicht gerade an sein Mittagessen denkt. Billig(st)e Flugpreise aufgrund von fehlender Kerosinbesteuerung und Subventionierung? Dürfte eigentlich auch nicht sein, wenn man nicht gerade seine nächsten Ferien plant. In solchen Visionen für eine bessere Welt müsste man natürlich auch Kompromisse eingehen können, da ja häufig erst durch unsere Verhaltensänderung einen positive Konsequenz zugunsten der Unterdrückten und Leidgeplagten daraus resultiert. Glücklicherweise gibt es in vielen Bereichen ethische(re) Alternativen, welche grundsätzlich relativ rasch erkannt (und auch umgesetzt) werden können. Um beim oben-genannten Wochenendausflug zu bleiben: Mit dem Zug ein lokales Ziel anvisieren statt ferne Destination mit dem Flugzeug? Absolut! Kleine Fair-Fashion/Öko-Boutique statt Shopping-Center Kaufrausch? Sicher doch! Alpenkräutertee statt Milchkaffee? Macht Sinn! Gemüse-Kokos-Curry statt 250 Gramm Rumpsteak? Keine Frage! Buch statt E-Reader? Beides ungefähr gleich öko (und vernachlässigbar)! Synthetische Materialien in Bettdecke statt Daunen? Definitiv! Das Hinterfragen seiner Handlungen darf also mitnichten zu einer fatalistischen Haltung führen, da es ja durchaus ethische Abstufungen gibt. Natürlich kann man bei jeder Handlungsalternative nach noch so kleinen Nachteilen suchen, aber das ändert nichts daran, dass gewisse („persönliche“) Entscheidungen massiv mehr Schaden anrichten als andere. Und es ändert auch nichts daran, dass wir uns vermehrt an solchen Verhaltensweisen orientieren sollten, welche aus einer utilitaristischen Sicht am wenigsten Schaden anrichten. Wie bedrohlich die Minenfelder unserer Entscheidungen also auch scheinen mögen: Gewisse Minen sind lediglich Attrappen oder harmlose Knallkörper. Die wirklich gefährlichen Minen unserer Zeit kann man hingegen mit dem richtigen Metalldetektor (respektive mit der Fähigkeit, sein Handeln selbstkritisch auf ethische, ökologische und soziale Auswkirkungen zu prüfen) rasch entlarven und relativ einfach umgehen; sodass bedrohliche Minenfelder bald wieder zu lebendigen Blumenwiesen werden. PS: Es gibt zwar keinen Reset Button, um Vergangenes zu ändern oder alte Spielstände zu laden, aber immerhin besitzen wir die Fähigkeit, einen inneren „Pause-Knopf“ zu drücken, um kurz – oder vielleicht auch etwas länger – zu überlegen, was unsere nächsten Spielzüge sind und in welche Richtung sich unsere Gesellschaft eigentlich bewegen soll.
4 Comments
Nina
19/3/2017 11:20:59 am
Und nicht zu vergessen, second-hand kann auch viel! :-) Ein Buch aus der Brocki ist null ökoverschleiss. Oder anstatt shoppen eine Kleidertausch-Party veranstalten.
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Lucia Ceccato
22/3/2017 12:37:03 pm
👏🏻
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Liebe Lucia Ceccato (aka L.A.? ;-))
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