Manchmal werde ich gefragt, wieso ich denn "immer über Veganismus" schreiben müsse:
"Es gibt doch noch andere Themen ausser Veganismus?! Wieso schreibst du eigentlich nicht über diese Themen?! Sind die denn etwa nicht auch wichtig?!" Nun, zunächst mal handelt es sich bei diesem "Themen-parteiischen" Eindruck um eine rein subjektive Empfindung. Diese individuelle Impression wird sicher auf einige Leute zutreffen, während andere Leser*innen womöglich finden, dass das Thema sogar noch vertiefter betrachtet werden könnte und es nie genug „Veganes“ geben kann. Ob dieser subjektive Eindruck allerdings auch die objektive Realität abbildet, lässt sich ganz einfach überprüfen: Man wende seinen Blick nach rechts und analysiere mal die Hauptthemen der einzelnen Blog-Beiträge auf meiner Website. Seit letztem April habe ich dort geschrieben über: - Die Vorteile des Fahrradfahrens ("Copenhagenisation") - Das Referendum in der Türkei ("Das Erdogan Dilemma") - Kulinarische Schlemmereien in London ("Queen Save The Cod" - zugegeben, da steht das Thema pflanzliche Ernährung wieder im Vordergrund, wird allerdings auf eine sehr lustvolle, kaum "missionierende" Art präsentiert und ist zudem ein Gastbeitrag für Veganaut gewesen, wo ich nicht plötzlich über Frauenrechte oder Rechtspopulismus sinnieren kann.) - Die Missstände in der Modeindustrie ("Fair Fashion Revolution") - Die Reaktionen einiger Leute auf den Versuch, ein besserer Mensch zu sein ("Unbeeindruckt!") - Unfreiwillig absurde, postmoderne Zeilen ("I. Das Faktum des Gebrotes") - Den Umgang mit alten und/oder dementen Menschen ("II. Nachwort") - Und - last but (definitely) not least - über mögliche Alternativen zu Zivilschutz, Militär und Co. ("III. Der etwas andere WK") Wenn wir uns jetzt also die Auswertung betrachten, dann sollte offensichtlich geworden sein, dass es – abgesehen von dem einen Gastbeitrag – in keinem einzigen Blogpost primär um Veganismus ging. In. Keinem. Einzigen. Natürlich ist es (sehr gut) möglich, dass hie und da, an irgendeiner Stelle des Beitrags, das Wort „vegan“ auftaucht; aber es wird garantiert nicht das einzige und letzte Wort im Text gewesen sein. Irgendwo erscheint (ganz) sicher auch das Wort „Gans“. Trotzdem bin ich kein Experte in Ornithologie oder befasse mich intensiv mit dem Paarungsverhalten von Entenvögeln. Es bleibt also nichts anderes übrig, als die These „SaoiAebi schreibt immer über Veganismus“ zu verwerfen. Das Tragische an der ganzen Angelegenheit ist allerdings nicht der eingangs erwähnte Vorwurf (da ich es als durchaus legitim und sogar wichtig erachte, kühne Hypothesen aufzustellen; zumindest wenn man diese dann auch kritisch hinterfragt), sondern dass einige kontra-faktische Mitmenschen trotz der gegen sie sprechenden Beweise mir dennoch widersprechen und an ihrer Unterstellung festhalten würden (oder wie es jemand letztens im Zivilschutz-Einsatz gesagt hat: „Ich weiss es, weil ich es glaube.“). (Ich habe mich übrigens damit abgefunden, dass trotz der Falsifizierung einer These seitens der beschuldigenden Personen keine Entschuldigung oder eine andere Geste des Anstands zu erwarten ist; wenn überhaupt jemand seine Niederlage eingestehen kann, dann ist das schon grosses Kino in einer Welt, wo die USA von der Uneinsichtigkeit in Person regiert werden.) Wieso könnte man dennoch von einer gewissen medialen „Vegan-Fixierung“ sprechen? Weil nicht ich (oder ehrlicher gesagt: nicht nur ich), sondern die ganze Gesellschaft aktuell darauf fixiert zu sein scheint. Egal, wo man hinschaut oder reinliest, wird das Thema irgendwie aufgegriffen: - Gesundheitstipp (Juni-Ausgabe): „Vegan essen: Risiko für Schwangere“ (Wer meine Retourkutsche dazu verpasst hat, hier mein Kommentar.) - Tagesanzeiger (16.06.17): „Vegane Ernährung eignet sich nicht für kleine Kinder“ (Auch im Tagesanzeiger wird ausdrücklich vor einer veganen Ernährung abgeraten.) - Tagesanzeiger (16.06.17): „Todbringender Veganismus“ (Noch am gleichen Tag erscheint ein zweiter Artikel zum Thema Veganismus mit einem hetzerischen Titel par excellence; auch hier gibt es übrigens einen Gegenkommentar meinerseits. Spannend ist diesbezüglich, dass man dafür bis nach Belgien fahren musste, um den Todesfall eines "veganen" Säuglings zu finden. Hier in der Umgebung gab es aktuell wohl nur Todesfälle von Kleinkindern omnivorer Eltern...) - Watson (24.06.17): „Vegane Ernährung kann für Kinder tödlich sein“ (Auch Watson bläst ins gleiche Horn und führt das Thema sogar in der Rubrik „Sektenblog“ auf, wo der neuerdings selbst-ernannte Ernährungsexperte Hugo Stamm die pflanzliche Ernährungsweise mit Esoterik, Impfgegnern und jüdischer Verschwörungstheorie vermischt – da muss man ja schon fast wieder darüber lachen...) - Und dann war da ja noch die Sache mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (Zeit Online (14.06.17): „>>Pflanzenkäse<< darf nicht Käse heissen“), wonach man Begriffe wie „Käse“, „Milch“ und Co. nur noch für Produkte verwenden kann, welche aus „normaler Eutersekretion“ (Definition von Milch gemäss EuGH; hier übrigens mein aktivistischer Gegenschlag zu diesem lächerlichen Urteil) bestehen. Es sei denn, man spricht natürlich von Kokosmilch. Dort gibt es eine Zusatzklausel, dass sich dieses Wort schon in unseren Alltag integriert hat. So wie Mandelmilch. Dieses Argument des bereits integrierten Begriffes ist allerdings nur in Italien gültig. In Deutschland muss sie fortan Mandeldrink heissen. - Selbst in der Tageswoche hat es Platz für etwas Vegan-Bashing (22.06.17, „Wurst-Therapie gegen Gewissensbisse“ - ebenfalls mit einem inoffiziellen Gastkommentar meinerseits). Knackeboul, der sich sonst als progressiven Gutmenschen gibt, hat hier für einmal kein Verständnis für eine Ernährungsform, die so effizient wie sonst nichts (ausser vielleicht den Verzicht aufs Fliegen und möglichst wenig Kinder zu kriegen) gegen den Klimawandel zielt oder millionenfaches Leid an fühlenden Lebewesen verringert (um nur zwei Argumente zu nennen [entschuldigt, ich bin etwas ausgelaugt von den „Social Media“-Strapazen der letzten Woche ;-)]). Knackebouls Beitrag schiesst den Vogel auch deshalb ab (respektive: schliesst die Auflistung auch deshalb ab), weil ziemlich viel pauschalisierender und irrationaler Blödsinn gelabbert wird (basierend auf einer diffusen Ablehnung veganen Menschen gegenüber), dass einem regelrecht schwindelig wird. Die Frage sollte also weniger sein, wieso in der Gesellschaft und - noch offensichtlicher - in den (sozialen) Medien so eine starke Vegan-Fixierung vorherrscht (offenbar handelt es sich dabei einfach um eines der grösseren oder zumindest polarisierenderen Themen unserer Zeit), sondern wieso es eine solche "Veganphobie" gibt. Ist es die Angst vor dem Fremden? Ist es fehlendes fachliches Wissen? Ist es die Neigung, Traditionen und vorherrschende Bräuche überzubewerten und sie möglichst nie zu hinterfragen? Ist es Faulheit? Ist es die Frustration über die eigene kognitive Dissonanz (also weil man heimlich weiss, dass da etwas mit unserem Umgang mit den [Nutz]Tieren nicht stimmen kann, aber man es gleichwohl nicht schafft, sein Verhalten gewissen ethischen Idealen anzupassen)? Oder ist es womöglich einfach die Tatsache, dass man in den Veganer*innen eine Minderheit – für einige Leute gar ein regelrechtes Feindbild – gefunden hat, auf welche man seine Wut projizieren kann (ganz im Sinne von "Hass verbindet")? Immerhin wird niemand als veganer Mensch geboren, sondern hat sich für diesen Ernährungs- oder Lebensstil entschieden (und selbst wenn man das Produkt veganer Eltern wäre, könnte man ja seine Ernährung später immer noch umstellen), weshalb es ja scheinbar nicht diskriminierend ist, diese Menschen öffentlich zu diffamieren. Vielleicht zeigt diese mediale Vegan-Fixierung jedoch auch, dass die vegane Community eigentlich doch Vieles richtig macht. Denn immerhin geniessen wir seit geraumer Zeit eine gewisse Aufmerksamkeit in den Medien, wodurch sich das Thema immer tiefer in der Gesellschaft verankert (so dass man schon fast versucht wäre, von einer sozialen Bewegung zu sprechen; was natürlich zahlreiche Mitmenschen vehement bestreiten würden). Trotzdem nochmals die Frage: Muss sich immer alles um Veganismus drehen? Nein, natürlich nicht. Aber offenbar lässt sich nirgends sonst so gut streiten, so viele Klicks generieren und gleichzeitig so viel Frust entladen (wobei einige Wutbürger und Trolle selbst bei harmloseren Themen einen digitalen Amoklauf hinlegen könnten). Aber vielleicht sollten wir uns in Zukunft doch häufiger über Ornithologie unterhalten. Das Migrationsverhalten von Gänsen würde sicher eine besänftigende Wirkung auf die eine oder andere Person haben. Ob man dafür jedoch viele Klicks kriegt, sei jetzt mal dahingestellt.
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Abgesehen von der interessanten Begegnung mit dem emeritierten Philosophie-Professor, den Lehren über das Älterwerden und der Auseinandersetzung mit den schicksalhaften Folgen einer Demenz hat mir der Zivilschutz-Wiederholungskurs – wenn ich ehrlich bin – nicht sonderlich viel gebracht. Sicherlich war es nicht ganz so schrecklich wie andere WKs, welche ich auch schon erleben musste; WKs, bei welchen ich bereits am allerersten Tag beim Bullshit-Bingo gewonnen hätte (von Rassismus, Sexismus, Homophobie, Verschwörungstheorien über Vegi-Gutmensch-Hate usw.). Und trotzdem bestand der Einsatz auch dieses Mal zu einem grossen Teil aus Warten und – daraus resultierend – Langeweile. Immerhin war dieses Mal der effektive Anteil der WK-Einführung in einem üblicherweise Neonröhren-beleuchteten Zivilschutz-Bunker relativ gering. Nur kurz mussten wir uns mässig witzige Anekdoten aus dem Leben eines Oberstleutnants anhören (beispielsweise eine Erzählung über das postwendende Eintreten von Durchfall in einem heiligen, indischen Tempel [„Jo, das esch au no speziell gsi!“] oder der Vergewaltigung einer 80-jährigen Altersheim-Bewohnerin durch einen 25-jährigen Berner Zivilschützer [„Ebe scho au no e luschtigi Gschicht gsi!“]). Und zumindest handelte es sich bei diesen Zivilschutz-Wiederholungskursen um keine monatelangen Militäreinsätze, sondern um lediglich ein paar wenige Tage im Jahr. Obwohl solche Wiederholungskurse einige Schattenseiten mit sich bringen, sollte man dennoch vier Vorteile hervorheben: Erstens muss man seine „Social Bubble“ mal wieder verlassen und merkt dabei unweigerlich, dass nicht alle Leute sich gleichermassen mit Weltproblemen herumschlagen oder mit Aktivismus beschäftigen (oder sich nicht alle Mitmenschen mit Autos und Ballerspiele die Zeit tot schlagen). Zweitens ist man durch diese heterogenen Einstellungen und Perspektiven dazu gezwungen, seine eigenen Überzeugungen zu überdenken oder zumindest auf den Prüfstand zu stellen (etwas, was man regelmässig tun sollte, um den kritischen Geist wach zu halten). Drittens stellt man dann womöglich auch fest (natürlich nicht alle Zivilschützer gleichermassen), dass man sich in vielen Themenbereichen bereits eine fundierte, mit vernünftigen Argumenten begründbare Meinung gemacht hat, welche dann in Diskussionen auch potentiellen Scheinfakten oder problematischen Haltungen entgegenwirken kann. Und viertens resultierte daraus die Erkenntnis, dass erwachsene Menschen ziemlich „lernresistent“ und wenig offen für neue Gedanken oder Ansichten sind. Natürlich ist beim letzten Punkt nur die daraus hervorgegangene Erkenntnis als Vorteil zu werten; denn ansonsten ist ja diese Tatsache (oder These) nicht gerade sehr förderlich, was den Fortschritt unserer Gesellschaft respektive unserer „geistige Evolution“ anbelangt. Während die Jugendlichen in der Schule der Lehrperson zuhören (naja, zumindest mehr oder weniger) und versuchen die übermittelten und hoffentlich sinnvollen Lerninhalte irgendwie zu verinnerlichen, stösst man bei Erwachsenen teilweise auf unüberwindbare Schranken, egal wie viel überzeugende Argumente man liefern mag. Aus diesem Grund schlage ich folgende Idee vor: Anstelle eines Wiederholungskurses – sei es nun Militär oder Zivilschutz – müssen sich alle Erwachsenen Mitte zwanzig (Frauen inklusive; im Gegensatz zur aktuellen Wehrpflichtsituation, wo ich für „unfreiwillig-dienstleistende Männer exklusive“ plädieren würde) jährlich in eine Art „Erwachsenenschule“ begeben, wo sie sich mit aktuellen Lerninhalten sowie gesellschaftlichen Problemen, globalen Themen oder philosophischen Gedankenspiele auseinandersetzen müssen. Gewisse Kompetenzen wie beispielsweise kritisches Denken oder das Verifizieren von Thesen sollten in dieser Institution gefördert und anschliessend auch getestet* werden. So würde man zwar die horrenden Ausgaben, die aktuell jährlich für das Militär (und ferner: Zivilschutz/-dienst) anfallen, nicht wirklich eindämmen können, weil dies ja für alle SchweizerInnen Pflichtprogramm wäre und niemand mehr Wehrpflichtersatz zahlen müsste (andererseits gäbe es nur intensive Wochenkurse anstelle von monatelangen, kostspieligeren Aufgeboten); aber man könnte immerhin für das gleiche Geld ganz viele „alternative Fakten“ ausmerzen und den gesellschaftlichen Fortschritt fördern. Und meine Motivation für den nächsten WK-Einsatz natürlich ebenfalls. *Als Abschluss hier noch ein kleiner "Der etwas andere WK"-Test für alle neugierigen LeserInnen (Auflösung unterhalb des Blog-Coverbilds): Fragen: 1) „Wie viel Energie (in Prozent) kann bei der Produktion von Aluminium eingespart werden, wenn man es rezykliert?“ 2) „Kann man Impfungen durch Homöopathie ersetzen?“ 3) „Wie viel Prozent des südamerikanischen Regenwalds wird für die weltweite Viehzucht gerodet?“ 4) „Wie viele Endlager für Atommüll sind aktuell weltweit in Betrieb – und zwar nicht nur als Pilotprojekt, sondern fix auf unbestimmte Zeit?“ 5) „Brauche ich ein gutes Stück Fleisch, um genügend Proteine zu kriegen?“ 6) „Wie viel Zugreisen innerhalb Europas kann man ungefähr tätigen, um aus ökologischer Sicht gleich schlecht dazustehen, wie wenn man einmal interkontinental fliegt?“ 7) „Wie viel Prozent der Schweizer Masthühner haben tatsächlich Auslauf im Freien? Und wie viel Zentimeter Stangenplatz steht einer Schweizer Legehenne zur Verfügung? 8) „Will uns der Bundesrat mithilfe von Chemtrails vergiften?“ Auflösung:
1) Bis zu 95% der Energie kann durch das Recycling eingespart werden. 2) Ja, kann man schon. Die Wirkung ist einfach ungefähr gleich gross, wie wenn man Hömopathie als Verhütungsmittel einsetzt (siehe auch Antwort zu Frage 4). 3) Zwischen 80 und 90% - je nach Region und Jahreszahl der Studie (wem also der Regenwald etwas Wert ist, sollte dringendst seinen Konsum von Fleisch und tierischen Produkten massiv reduzieren). 4) 0. Null. Fucking zero! 5) Nein, brauchst du nicht. Es gibt genügend pflanzliche Proteine (siehe folgende Nährwert-Tabelle). 6) Bis zu 60 europäische Zugreisen (auch wenn natürlich viele Faktoren wie Distanz, Auslastung des Transportmittels etc. davon abhängig sind; siehe Beitrag „Flugentzug“) 7) Für beide Fragen gilt die Antwort „15“ (Prozent respektive Zentimeter). 8) Nein, natürlich nicht! Der Bundesrat ist so harmlos wie eine Hausspinne. Wahrscheinlich hat er mehr Angst von dir, als du vor ihm. Die Zeilen, die ihr letzte Woche im Beitrag „Das Faktum des Gebrotes“ gelesen habt, stammen nicht von mir, sondern von einem Herrn, den ich im Rahmen eines Zivilschutz-Einsatzes im Altersheim betreut habe. Relativ bald realisierte ich, dass ich diese höchst faszinierenden Sätze, welche mein Gegenüber während zwei ausgedehnten Spaziergängen meistens in Form eines losen Monologs von sich gab, irgendwie festhalten musste – obschon ich noch gar nicht wusste, was ich anschliessend damit eigentlich anstellen sollte. Mir war natürlich auch bewusst, dass ich nicht einfach irgendwelche Gespräche transkribieren durfte – zumal es sich bei der entsprechenden Person um einen dementen Herrn in hohem Alter handelte, der sein Einverständnis für eine Veröffentlichung logischerweise nicht mehr geben konnte. Dennoch schien mir ein Blogbeitrag der künstlerischste und würdigste Weg zu sein, um mit dieser Situation umzugehen. Zunächst mal gefiel mir an den Zeilen vom letzten Beitrag die dadaistische Komponente: Gewiss haben diese Sätze auch etwas rein Humoristisches ("vom Brot entsprungen"), aber in erster Linie sind sie einfach mal absurd und wirken dadurch beinahe postmodern. Gleichwohl strahlen sie eine gewisse Tiefe aus, so dass man das Gefühl hat, es handle sich bei den kryptischen Worten um ein zu lösendes Rätsel; als ob hinter der anscheinend (oder scheinbar?) willkürlichen Aneinanderreihung von Worten eine versteckte, entschlüsselbare Botschaft läge. Das hat wohl auch damit zu tun, dass man als Gesprächspartner (respektive als Zuhörer – der letzte Blogpost war ja, wie gesagt, eher ein notierter Monolog als eine effektive Konversation) in gewissen Momenten den Genius der Person aufblitzen sehen konnte; die verlorene Intellektualität eines mittlerweile demenzkranken, aber früher mal geschätzten Philosophie-Professors – wie ich später beim Recherchieren erfuhr. Ab und zu schnappte ich bei den ausgiebigen Spaziergängen ein eloquentes Wort auf, welches sich dann jedoch sogleich wieder in der geistigen Unordnung meines Gegenübers verlor. Es ist diese unglaubliche Tragik, die betroffen macht: Der tiefe Fall einer Person, die sich mit den ganz grossen Fragen des Lebens beschäftigte – und am Ende durch eine neurologische Erkrankung nicht einmal mehr einfachste Fragen kohärent beantworten kann. Neben dem empathischen Aspekt, spürte ich schliesslich aber auch noch eine ganz persönliche Verbindung zwischen mir und diesem unscheinbaren Greisen aus dem Altersheim. Denn je mehr ich mich in meiner Freizeit mit dessen Biografie beschäftigte (in den Gesprächen erfuhr ich nicht mal konkret, welchen Beruf er einst ausübte), desto mehr erkannte ich, dass es sich bei meinem Gegenüber offenbar um einen Menschen handelte, der in seinen aktiven Jahren als Philosoph und Publizist häufig gesellschaftskritische Themen ansprach, sich beispielsweise für das Abtreibungsrecht und die Abschaffung des Militärs stark machte, fundierte Religionskritik ausübte, einen Hang zum Anarchischen hatte, sich stets kämpferisch und leidenschaftlich zu diversen politischen Traktanden öffentlich äusserte und ausserdem sehr musik- und kunstbegeistert war. Dies alles konnte man in einzelnen, seltenen Fragmenten wahrnehmen, so dass es den gesprochenen Worten eine poetische Komponente verlieh („Die Grösse sieht man manchmal erst wieder, wenn sie auftaucht in der Wildheit.“). Um dies aber auch wirklich wahrnehmen zu können, muss man allerdings gut und lange zuhören, denn nur zu schnell werden Menschen, die an Alzheimer leiden, stigmatisiert. So kann es einem schnell passieren - für das Personal in den Altersheimen ist dies leider, aber verständlicherweise an der Tagesordnung -, dass man zu sich selber sagt: „Nun, so ist es halt mit alten Menschen: Nur noch wirres Gebrabbel.“ Durch diese Stigmatisierung und Befangenheit wird das Wahrnehmen dieses lyrischen Aspektes natürlich erschwert – und die Poesie geht in der Demenz unter. Zumindest so lange, bis sie wieder auftaucht in der Wildheit. PS: Auf der Spurensuche nach der verschollenen Vergangenheit dieses Herrn bin ich übrigens auf einen Aphorismus
gestossen, welchen er vor einiger Zeit in einem seiner Bücher veröffentlicht hatte: Normalität ist jener Grad von Demenz, bei dem der Durchschnitt am wenigsten leidet... |
SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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