Manchmal entbehrt das Weltgeschehen jeglicher Logik. Damit meine ich allerdings nicht das Verdrängen von Umweltkatastrophen wie dem Roden von Regenwäldern zum Anbau von Sojakraftfutter für unsere knapp 10'000 Kilometer entfernten Nutztiere; nicht die tödlichen Terroranschläge rund um die Welt (häufig) im Namen eines wahrscheinlich inexistenten Gottes; und auch nicht die hasserfüllte Politik von Erdogan, Trump und Co. (welcher ja durchaus eine autokratische, narzisstische Logik zugrunde liegt).
Nein, ich spreche davon, dass Pokemon plötzlich wieder in aller Munde liegt – eine Tatsache, die einige Monate zuvor noch höchst unwahrscheinlich erschien und dessen Prophezeiung wohl mit Spott überhäuft worden wäre. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass wir es bei Pokemon GO diesmal nicht bloss um eine weitere Fortsetzung einer schier endlos scheinenden Videospielreihe zu tun haben, sondern mit einem innovativem Werk (ich spreche bewusst von „Werk“, um das meist unbeachtete Genre der Videospiele etwas in Nähe anderer künstlerischen Bereiche zu stellen – Videokunst und Fotografie sind ja mittlerweile auch anerkannter Bestandteil von Kunstmessen oder zeitgenössischen Museen), das womöglich die Art der Videospiele und der digitalen Technik in unserem Leben revolutionieren könnte. Die Grundidee von Pokemon ist immer noch dieselbe: Das Sammeln von möglichst vielen fiktiven Wesen. An diesem roten Faden der Videospielreihe kann der akute mediale Aufschrei freilich nicht liegen – immerhin reicht ja die Idee des Sammelns bis in die Anfänge der Menschheit zurück. Neuartig ist hingegen die Loslösung von einem vorgegebenen Protagonisten, den man durch eine virtuelle Welt steuern muss. Früher konnte man höchstens den Namen seiner Figur selber bestimmen (in anderen Spielen immerhin auch die Art der Figur etc.), aber nie war man selber so sehr in das Spiel integriert wie jetzt. Das bringt uns natürlich zum nächsten und noch weitaus revolutionäreren Punkt: Das geschickte Verschmelzen von Videospiel und unserer effektiven geografischen Umgebung. Sicherlich haben bereits andere Apps (via GPS- und Kamerafunktion) erste Versuche gemacht, endlich der seit den Science-Fiction-Anfängen ersehnten virtuellen Realität ein Stück näher zu kommen. In Zusammenarbeit mit dem Google-internen Startup Niantic ist dem Konzern Nintendo dieser Durchbruch nun zumindest auf grösserer, globaler Ebene gelungen und wird damit vermutlich einen regelrechten Boom auf solche sogenannten „Mixed-Reality“-Spiele verursachen. Der Aufstieg Pokemons von einem veralteten, aber geschätzten Videospiel für Jugendliche zu einem Vorreiter einer digitalen Revolution und einem Stück aktueller Popkultur ist aber nicht ganz zufällig. Im Gegensatz zu gewissen Künstlern in anderen Bereichen der Popkultur geht es bei dieser Weiterentwicklung – übrigens ebenfalls eine Art zentrales Leitmotiv in den Pokemon-Spielen – nicht bloss um ein willkürliches Gimmick, um einfach möglichst viel Aufmerksamkeit zu erlangen, sondern um eine konsequente Evolution des Game-Konzepts: Du selber bist der individuelle Protagonist und musst, um dich gegen zahlreiche Konkurrenten behaupten zu können, wortwörtlich in die Welt hinaus ziehen und Erfahrung sammeln. So erstaunt es nicht, dass man plötzlich von Personen liest, die – ihrem kindlichen, aber beileibe nicht kindischen Entdeckungsdrang folgend – weite Wege gehen, Felder und Wälder durchstreifen, konzentriert an Flüssen entlang spazieren oder sich durch den Grossstadtdschungel kämpfen, um ihrem Ziel näherzukommen. Diese Verlagerung vom tendenziell eher introvertierten Videospielen zuhause zum extrovertierten, interaktiven (Natur)Erlebnis ist sicherlich begrüssenswert – auch wenn es natürlich höchst ironisch ist, dass uns ein Videospiel wieder zurück in die Natur oder zumindest raus aus der Wohnung lockt. Doch wie die aufstrebenden Pokemon-Master an ihrer steten Weiterentwicklung und jener ihrer Pokemon arbeiten müssen, so werden auch die Entwickler des Spiels Updates präsentieren müssen, um die Leute bei der Stange zu halten. Sollte die App jedoch noch interaktiver werden, noch mehr knifflige Rätsel oder Hindernisse beinhalten, dazu regelmässig neue Monster aufgeschaltet und diese zudem geografisch exklusiv positioniert werden (so dass bspw. ein Sleima nur in von Mülldeponien chemisch verunreinigten Flussarmen zu finden ist oder ein Lapras eine endemische Pokemonart Ost-Lapplands ist), so wird dieser Hype vorerst nicht abflachen (obwohl natürlich konkurrenzierende Apps auch davon profitieren möchten und Pokemon GO vom Thron stossen werden wollen). Man wird vielleicht gar von manchen Usern lesen, die diesen Mix aus Videospiel, Reiselust und Fitnessparcour tatsächlich zu einer Art Lebensaufgabe machen, wie dies Ash Ketchum in der bereits 1997 ausgestrahlten Serie getan hatte. So bleibt natürlich die Frage offen, was man mit solchen Apps sonst noch machen kann. Wie wäre es zum Beispiel mit einer Dating-App für Leute mit ethischem Gewissen, wo man zuerst fünf gute Taten (Check-In im Asyl-Ankunftszentrum, in einem Tierheim usw.) vollbringen muss, bevor man fünf PartnerInnen-Vorschläge kriegt? Das wäre zumindest sympathischer als Tinder und würde dazu führen, dass das Commitment der User nicht nur dem Jagen fiktiver Monster gilt, sondern auch mehr ehrenamtliches Engagement gezeigt würde. Oder wie wäre es – um dem Mixed-Reality-Aspekt etwas mehr Gewicht zu geben – mit einer historisch-angehauchten Reise-App, bei welcher man beispielsweise durch die Künstlerviertel in Paris streifen kann und in ausgewählten Bars oder Plätzen fiktive, aber möglichst authentischen Diskussionen zwischen Liszt und Saint-Saëns (oder meinetwegen auch Miró und Dalí) lauschen und natürlich via App-internen „Hologramm“ auch zuschauen kann? Die Geschichte wäre noch nie so lebendig gewesen. Wie die Zukunft auch aussehen mag, steht in den Sternen. Sicherlich wird Pokemon GO nur der Big Bang des Mixed-Reality-Universums gewesen sein. Und trotzdem ist das geballte und aufrichtige Interesse an dieser womöglich nur kurz aufblühenden Sternschnuppe am digitalen Firmament soziologisch höchst faszinierend. Auch für Aussenstehende wie mich. Denn trotz der aufgrund nostalgischer Gefühle offensichtlichen Neigung zu Pokemon, werde ich mir die App nicht besorgen. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass mein iPhone 4 nicht kompatibel damit ist. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mir einen ganz speziellen Pokedex (i.e. ein Tierlexikon) zu beschaffen und mich damit auf die Suche nach allen „realen Pokemon“ zu machen. Bei ungefähr lediglich 10 Millionen Tierarten sollte das ja ein Kinderspiel sein. Gotta catch them all!
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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