Wir lieben Helden.
Schon seit jeher. Egal, ob in den verschiedenen Religionen, in alten Sagen und Märchen oder in aktuellen Filmen und Serien. Man schaue sich nur an, wie viele Superhelden-Filme alleine im Jahr 2018 herausgekommen sind: Spider Man: Into The Spider-Verse, Venom, Ant-Man And The Wasp, Avengers: Infinity Wars, The Incredibles 2, Black Panther, Aquaman und Deadpool 2 (wobei es sich bei letzterem natürlich eher um eine Persiflage dieses Genres handelt). Und doch haben wir uns auch immer stärker von ihnen distanziert. Oder sie an uns gelassen – je nach Betrachtungsweise. Früher haben wir Helden wortwörtlich vergöttert und sie zu makellosen Ikonen stilisiert; zumindest nachdem die Menschheit die ungeschliffenen, randalierenden, griechischen Götter hinter sich gelassen hatte. Das prominenteste Beispiel diesbezüglich ist wohl Jesus, der als Sohn Gottes nahezu perfekt (oder zumindest in seiner Unperfektheit perfekt) dargestellt wurde. Dieses Kultivieren des vollkommenen Helden (und des durch und durch bösen Antagonisten) zog sich lange Zeit so weiter; denn damit konnte man auch dem einfachen Volk klar machen, wer gut und wer böse ist. Doch wie ich bereits im letzten Blogpost, Der Kampf um das Wissen, geschrieben habe, hatte diese Art von Verherrlichung auch etwas Naives und Undifferenziertes. So war es – wenn wir in der Zeitgeschichte etwas nach vorne springen – in vielen Kreisen verpönt, Leute wie Mutter Theresa, Mahatma Gandhi und Co. zu kritisieren, da sie die Helden jener Jahrzehnten waren. Es herrschte quasi Konsens darüber, dass diesen Menschen etwas „Heiliges“ anhaftete. Erst später wagte man sich, genauer hinzuschauen. Mutter Theresa, die 1979 mit dem Friedensnobelpreis für ihren „löblichen Umgang mit Armen und Mittellosen“ ausgezeichnet wurde, hatte sich beispielsweise in ihren „Krankenhäusern“ kaum um deren Leiden gekümmert, so dass diese unter katastrophalen Zuständen bis zu ihrem Tod dahinvegetierten – häufig ohne Schmerzmittel, welche untersagt waren. Ausserdem soll massenhaft Geld veruntreut worden sein; gemäss Untersuchungen landete es regelmässig in den Händen obskurer Organisationen oder politischer Führer. Nur dank einer gigantischen PR-Kampagne seitens der katholischen Kirche flogen diese Umstände nicht früher auf. Auch Mahatma Gandhi könnte man dafür kritisieren, dass er das unmenschliche Kastenwesen in Indien nicht wirklich zu auflösen gedenkte, sondern sich lediglich damit beschäftigte, die Briten aus Indien zu vertreiben; dass er zumindest in seinen jungen Jahren rassistische Ressentiments gegenüber Dunkelhäutigen hatte; und ausserdem sehr voreingenommen war, was das weibliche Geschlecht und die Sexualität der Frau anbelangte. Auch wenn man nicht vergessen sollte, dass man Menschen und deren Handeln immer im Kontext ihrer Zeit betrachten sollten, hat diese Kritik natürlich ihre Berechtigung. Nichtsdestotrotz stimmt wohl auch hier, was ich im letzten Blogpost geschrieben habe: Das Gegenteil von naiver Leichtläubigkeit sollte nicht tiefes Misstrauen [in Vorbilder und Helden], sondern ein gesunder Skeptizismus [und eine differenzierte Betrachtungsweise] mit einem Grundvertrauen [in das Gute] sein. Doch unsere Enttäuschung in diese vermeintlichen Helden war und ist womöglich so gross, dass wir uns vermehrt Anti-Helden oder lasterhafte Idole erschufen. Dies sieht man zum Beispiel, wenn man die Hauptfiguren in Serien wie True Detective, Fargo, Breaking Bad, Bojack Horseman oder Superhelden von heute betrachtet. (Teilweise werden die Rollen gar vertauscht, so dass wir plötzlich mit den eigentlichen Bösewichten sympathisierten wie beispielsweise mit Pablo Escobar in Narcos.) Makellosigkeit ist also out. Stattdessen lautet das Motto des 21. Jahrhunderts: Lasst uns unsere perfekten Helden beerdigen und stattdessen die griechischen Götter zurückholen! Sollten wir in einem aktuellen filmischen Werk doch mal einem Helden mit weisser Weste begegnen (ich wüsste allerdings abgesehen von Kinderfilmen von keinem solchen Helden oder keiner solcher Heldin...), wirkt dieser meist aalglatt und unrealistisch. Wir sehnen uns nach dem Helden, der trinkt, flucht und Scheisse baut. Wahrscheinlich fühlen wir uns dann dem Protagonisten näher, weil wir ja auch alle unsere Fehlerchen haben. Leider wird diese Haltung mittlerweile häufig auf die Spitze getrieben, wenn nämlich jedes potenzielle Vorbild gleich auf Ungereimtheiten gescannt und anschliessend diskreditiert wird. Hat man dann was gefunden, was man kritisieren könnte – und man findet garantiert bei jedem Menschen irgendeinen Kritikpunkt (selbst wenn er noch so klein und irrelevant ist) –, dann wird dessen Credibility gleich komplett abgewertet. Dieses Scheinargument nennt sich übrigens „Argumentum ad hominem“. So geschehen bei einem der – meines Erachtens – grössten Inspirationen unserer Zeit: Greta Thunberg. Weil man sie nämlich auf einem Foto beim Mittagessen (sie ernährt sich aus ökologischen Gründen nur noch vegan) auf der Zugfahrt in die Schweiz (sie ist nicht wie die meisten der WEF-Gäste mit dem Privatjet nach Davos geflogen) mit Plastikbesteck sieht, wurde sie von zahlreichen Personen sogleich als Heuchlerin bezeichnet. Ergo könne man sie und ihre Forderungen generell nicht mehr ernst nehmen, so die gängige Haltung zahlreicher konservativer Kräfte. Dass eine solche Grundeinstellung geradezu armselig ist, entlarvt glücklicherweise der grösste Teil der Gesellschaft. Immerhin haben wir es einerseits bei der oben-genannten Person nicht nur mit einer Aktivistin im Jugendalter zu tun, wo wir bei anderen Pubertierenden schon deutlich gröbere Ungereimtheiten durchgehen lassen und liessen (man denke sonst einfach mal an die eigene Jugend zurück...). Andererseits sind die Anschuldigungen (i.e. etwas Plastikabfall auf einer langen Zugreise) im Vergleich zu ernstzunehmenden Anschuldigungen wie beispielsweise bei Mutter Theresa regelrecht lächerlich. (Übrigens könnte man auch durchaus die Kritik an Gandhi kritisieren, indem man den Perfektionsanspruch und das Whataboutism-Argument herausfiltert; denn es wäre wohl ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, sich gegen die Herrschaft der Briten aufzulehnen und gleichzeitig noch das Kastensystem abzuschaffen. Gandhi hat insgesamt trotzdem mehr Gutes erreicht als Schlechtes getan [oder genauer: noch mehr Gutes nicht getan].) Dieser Perfektionsanspruch und die gleichzeitige Verteufelung davon findet man aber nicht nur bei Personen von öffentlichem Interesse: Auch viele meiner Aktivisten-Freund*innen nehmen diese übertriebene Kritik häufig war. Und wenn man sich wie ich regelmässig in der Öffentlichkeit oder auf Social Media zu gesellschaftskritischen oder moralphilosophischen Themen äussert, kriegt man die volle Ladung an Hass und Frustration ab. Meistens übrigens von Leuten, die weit davon entfernt sind, einen nachhaltigen Lebensstil zu pflegen und zum Beispiel jährlich mindestens einmal in die Ferien fliegen, in einem Einfamilienhaus auf dem Land wohnen, mit Erdöl heizen, täglich Auto fahren, mehrere Kinder auf die Welt gesetzt haben, regelmässig Fleisch und tierische Produkte verzehren, zahlreiche Konsumprodukte kaufen, sich nicht mit der Herkunft von Kleidern und technischen Geräten beschäftigen etc. pp. Wieso die Wutbürger dann besonders hart zuschlagen, liegt auf der Hand: Allein die Existenz von Veganer*innen, Flugverweiger*innen oder Zero-Wastler*innen beweist, dass ein nachhaltigeres Leben möglich wäre. Und dies führt automatisch zu einer Asymmetrie, da die meisten Menschen sehr wohl wissen, dass fliegen umweltschädlich ist, Fleisch essen zu Tierleid führt und wir zu viel Abfall produzieren. Statt sich also einzugestehen, dass man noch einen langen Weg vor sich hat; dass niemand perfekt geboren wurde und es viel Disziplin und Wille braucht, um sein Verhalten ethischer und nachhaltiger zu gestalten; dass es glücklicherweise Leute gibt, von denen man noch viel lernen kann, auch wenn sie höchstwahrscheinlich auch nicht perfekt sind; dass man in einer Welt, in der es aussieht, als wären wir gerade zuoberst auf der Achterbahnfahrt (kurz bevor wir in die Tiefe stürzen), unbedingt Inspirationsquellen und Hoffnungsträger*innen braucht... Stattdessen opfern wir lieber unsere Helden. Damit wir uns besser fühlen. Zumindest bis zur Katastrophe. Dann werden wir wohl laut nach einem Helden rufen, der uns alle retten möge. Aber die Helden sind längst unter uns. Wir müssen ihnen bloss zuhören. Oder die Helden in uns selber erwecken.
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