Sie war etwas früher wach als er, an diesem ruhigen Sonntagmorgen. Behutsam schlich sie aus dem Bett und ging hinunter in die Küche, wo sie durch das Fenster auf das langsam erwachende Treiben am Hafen blickte – auf die Fischerei-Boote, welche sich bereit machten, in See zu stechen oder gerade von ihrem Fang zurückkamen; aber auch auf die Möwen, die sich gegenseitig durch die Lüfte jagten, weil sie offenbar irgendwo Fischreste erspäht hatten, welche die Hafenarbeiter ausgeleert hatten.
Doch so sehr sie fasziniert war von den verspielten und chaotischen Flugmanövern der Möwen, von deren Freiheit, sich dorthin zu begeben, worauf man gerade Lust hatte – auf die See hinaus oder doch lieber ins Landesinnere -; es war vor allem das Meer selbst, welches sie in den Bann zog. Besonders jetzt, als die ersten Sonnenstrahlen des Tages durch die dichten, grauen Wolken drückten und glitzernd auf der Wasseroberfläche tanzten... Ein intensives Gefühl der Melancholie durchdrang ihren ganzen Körper, denn sie wusste natürlich schon, dass das Meer auch ein gefährlicher Ort ist. Viele haben sich schon in der unendlichen Weite verloren und sind nicht mehr zurückgekehrt. Doch gleichwohl war da ihr inneres Treiben, diese Sehnsucht nach dem Aufbruch in eine neue Welt – auch wenn sie sich bewusst war, dass diese neue Welt nur als romantischer Gedanke in ihrem Kopf existierte, da man bereits jeden Flecken der Erde entdeckt und vermessen hatte. Aber der Mensch ist halt nur ein bedingt rationales Wesen. Teilweise möchte er sich einfach treiben lassen, wie die Möwen von einem starken Westwind – aus einer Entscheidung des Moments heraus, mit den Gefühlen als Kompass und nicht dem Verstand. Aus diesem Grund hat es beide schon hinausgezogen auf das Meer – sowohl sie als auch ihn. Und wieso eigentlich auch nicht? Meistens ging ja alles gut: Die eine Person durfte den Nervenkitzel des Meeres erfahren; dieses Gefühl, wenn man den Hafen nur noch als kleiner Punkt am Ende des Horizonts sieht; dieses Gefühl von der unglaublichen Tiefe, welche unter den Holzplanken des Bootes bedrohlich lauert; und schliesslich auch dieses Verlangen, wieder umzukehren, weil man die Stabilität des Festlands vermisst und genug hatte vom rauen Wiegenlied der Wellen. Doch auch für die andere Person, welche an Land sehnsüchtig die Rückkehr der geliebten Person erwartet, können sich durch dieses wagemutige Vorhaben Vorteile ergeben: Das Gefühl des Verlangens nach der vertrauten Zweisamkeit, welcher man manchmal im Alltag womöglich zu wenig Tribut zollt; das Gefühl, mal wieder Platz und Freiraum für sich zu haben und sich bis zur Rückkehr ohne Rücksichtnahme auf sein Gegenüber verhalten zu können; aber auch das intensive Gefühl der Angst, seine(n) Geliebte(n) womöglich immer zu verlieren und deshalb umso stärker die Momente zu schätzen, welche man miteinander verbringen kann. Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie still schweigend durch das Fenster blickte und sich die Sonne mehr und mehr durch das graue Firmament kämpfte und den Hafen in ein leicht goldenes Licht tauchte. Heute könnte ein guter Tag sein, dachte sie sich und zog hastig ihre Jacke und die Gummistiefel an... Durch das Geräusch der sich schliessenden Haustüre wachte er auf und wusste für einen kurzen Moment nicht, wo er sich gerade befand oder was für ein Wochentag es eigentlich war. Da er jedoch grundsätzlich Vertrauen in seinen Wecker hatte, wusste er, dass er nicht verschlafen haben konnte. So stand er auf und lief hinunter in die Küche. Doch die Katzen waren für einmal verstummt und riefen nicht gleichermassen hungernd und anklagend nach ihrer morgendlichen Mahlzeit; sie musste die Katzen also schon gefüttert haben, als er noch schlief. Wo war sie eigentlich? In der Wohnung schien sie nicht zu sein und auch im Garten konnte er sie durch das Fenster blickend nicht finden. Als er dieses öffnete, um auch in den hintersten Bereich des Anwesens sehen zu können, verwandelten sich die bisher noch dumpfen Laute der Möwen augenblicklich in ein ohrenbetäubendes, hysterisches Geschrei; worauf er das Fenster wieder eilig schloss. Nachdem er sich seinem morgendlichen Ritual hingegeben und sich beim Lesen der Zeitung mit einem hausgemachten Müsli mit Reismandelmilch gestärkt hatte, zog er sich an und schlenderte gemütlich in Richtung Hafen. Doch weder beim Gemüsemarkt noch bei der Bäckerei traf er allerdings auf sie. Er schritt deshalb zum Hafen und sah, dass ihr Boot nicht mehr da war. Offenbar musste sie heute Morgen aufgebrochen sein, dachte er sich. Er schaute auf das Meer hinaus und versuchte ihr Boot irgendwo auszumachen, er sah jedoch nur unzählige kleine Punkte in der Ferne, die auf der schimmernden Oberfläche des Meeres ruhten. Das Wetter war frisch, aber nicht unangenehm kalt. Deshalb blieb er noch eine Weile stehen und blickte auf die ruhige See und erinnerte sich an seine Ausflüge und Reisen, die er unternommen hatte. Viele schöne Erlebnisse, die er nicht missen möchte; aber auch anstrengende Erinnerungen, in welchen ihn zuweilen die Furcht übermannte, den Weg zurück in den Hafen nicht mehr zu finden, weil plötzlich ein heftiger Sturm losbrach, die Wellen bedrohlich an den Bug klatschten und eine unglaubliche Regenmasse auf das Boot niederprasselte. Aber stets sah er in der Ferne die Lichter des Hafens, den Leuchtturm der Hoffnung – egal, wie stark die Wogen das Boot auch traktierten. Eine kräftige Windböe riss ihn jäh aus seinen Tagträumen. Die Möwen hatten sich mittlerweile ein bisschen beruhigt und viele sassen still in Reih und Glied auf einer Mauer. Einige schienen es gar zu geniessen, sich in der Morgensonne aufwärmen zu können. Ob sie wohl auch gerade in Erinnerungen schwelgten? Er packte seine Tragetasche mit dem frisch gekauften Marktgemüse und machte sich auf den Weg in ein Café, welches eine Freundin von ihm kürzlich eröffnete und sich so ihren Lebenstraum erfüllt hatte. Es war zwar noch etwas früh und das Café würde erst in einer knappen Stunde öffnen, aber vielleicht konnte er ihr ja auch ein bisschen unter die Arme greifen. Schon von weitem sah er sie an der grossen Fensterfront stehen. Auch sie schien etwas gedankenversunken auf das Meer hinaus zu schauen. Erst als er nah genug war, erkannte sie ihn und winkte ihm freundlich zu. Die letzten Sonnenstrahlen waren hinter dem Horizont verschwunden und er bereitete zuhause gerade sein Abendessen vor. Von ihr fehlte jedoch noch immer jede Spur. Normalerweise hätte sie ihm schon längst eine Nachricht geschickt und wäre mittlerweile bereits zurückgekehrt – spätestens jetzt bei Einbruch der Abenddämmerung. Er legte kurz das Messer nieder, mit dem er gerade den frischen Mangold am Schneiden war und blickte etwas besorgt durch das Fenster. Über den Lichtern des Hafens sah er einige Schatten am Himmel vorbeihuschen. Dem dumpfen Möwengeschrei nach sind die letzten Fischerboote wohl zurückgekehrt. Ob sie wohl noch irgendwo da draussen war? In der Ferne sah er vereinzelte, undefinierbare Punkte – wie erstarrte Glühwürmchen –, die langsam in der fortschreitenden Dämmerung und inmitten der aufziehenden, bedrohlichen Wolkentürmen zu verblassen schienen. Es sah ganz nach einem nahenden Gewitter aus...
3 Comments
Esther
18/6/2018 11:05:38 am
Melancholisch. Schön. Gefällt mir!
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Lara
12/9/2021 07:33:43 am
wunderschön gschriebe. sehr berührend.
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Sarah
13/9/2021 12:44:13 am
Sehr schön geschrieben! :)
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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