Als ich das erste Mal auf einem Foodblog von diesem kulinarischen Trick las, dachte ich bloss: „Ihr wollt mich doch verarschen, oder?!“ Aber die meinten es offensichtlich wirklich ernst. Offenbar weder Sponsored Content, noch Fake News oder Verschwörungstheorie. Aber zunächst mal ein paar Wochen zurück. Anfang dieses Jahres nahm ich mir unter anderem vor, noch bewusster Foodwaste zu verhindern. So röstete ich beispielsweise die nahrhaften Kürbiskerne in einer Bratpfanne, welche beim Aushölen eines Speisekürbises übrig bleiben und dann üblicherweise im Kompost landen; liess die Zeste von Zitrusfrüchten wie Mandarinen oder Blutorangen auf der Heizung trocknen, um sie dann später für Pastagerichte, Curries und Cocktails zu benutzen; oder verwendete alle Teile des Lauchs (mitsamt den dunkelgrünen Stellen). Irgendwann stiess ich dann bei einer späteren Foodwaste-Recherche auf den Begriff „Aquafaba“. Was zunächst klang wie ein esoterisches Erlebnisbad, entpuppte sich als nichts anderes als das leicht dickflüssige Einweichwasser von Kichererbsen (oder anderen Hülsenfrüchten). Mit diesem Kichererbsenwasser sollte man nun also einen veganen „Schlagrahm“ zaubern können, der einer Eiweiss-Schaummasse in nichts nachstehen sollte. Natürlich war mir die Sache ziemlich suspekt, aber meine Neugier war grösser. Als sich dann bereits nach wenigen Minuten mit dem elektrischen Rührgerät tatsächlich eine schneeweisse, luftige Masse bildete, war ich regelrecht euphorisch: Sowohl optisch wie auch hinsichtlich der Konsistenz gab es an dem veganen „Eischnee“ nichts auszusetzen... ...wenn da nicht der fürchterliche, dominante Kichererbsen-Geschmack gewesen wäre. Dieser war auch nach einer grösseren Ladung Zucker noch so penetrant, dass ich das Ganze enttäuscht in den Abfluss leerte. Foodwaste konnte mich mal! Ein paar Wochen später stand ich jedoch wieder im Supermarkt vor dem Regal mit den Konservendosen und da beschloss ich, dem Kichererbsenwasser noch einmal eine Chance zu geben. Ich wählte also diejenigen Kichererbsen aus, welche den tiefsten Salzgehalt hatten (mehr Infos dazu im Rezept weiter unten) und überlegte mir, mit welchen Aromen man den Geschmack der Hülsenfrüchte überdecken könnte. Kakao! Der Geschmack von Schokolade ist ja ebenfalls recht dominant und eine leicht salzige Komponente stört ausserdem in Kombination mit der herben Süsse von Kakao auch nicht sonderlich (man denke an Schoko-Variationen mit Fleur de Sel oder Erdnussbutter). Und siehe da: Das vegane Schoggimousse funktionierte tatsächlich. Trotz (oder gerade dank) der Kichererbse. Zutaten (für 3-4 Portionen): - ca. 120 ml Kichererbsenwasser* - 1/2 TL Johannisbrotkernmehl - 2 EL Apfelsüsse, Ahornsirup, Agavendicksaft oder Birnel - 120 g Dunkle Schokolade** Zubereitung: Zunächst Kichererbsenwasser (*mit möglichst wenig Salzgehalt; z.B. von Migros Alnatura 350g [Salzgehalt: 0.38g]) gefiltert in einem grossen Gefäss auffangen und gemeinsam mit Johannisbrotkernmehl und Apfelüsse o.ä. schaumig schlagen. Bereits nach 2-3 Minuten sollte die gewünschte Konsistenz erreicht sein. Nun Schokolade (**z.B. Coop Naturaplan „Projekt Honduras“ 70%) in Wasserbad schmelzen und anschliessend etwas abkühlen lassen. Danach die immer noch flüssige Schokolade behutsam mit einem Schaber oder einem grossen Löffel unter die „Schlagcreme“ mischen. Die nun einheitliche, gut vermischte Masse in kleine Gläser abfüllen und für ungefähr eine Stunde kalt stellen. Wer möchte, kann das Ganze am Schluss noch mit gemahlenen Mandeln oder Kakaostreusel verzieren. Tipp 1: Probiert den ungesüssten, schaumigen Aquafaba-Schnee besser gar nicht. Sonst verliert ihr womöglich die Hoffnung auf ein gutes Ende.
Tipp 2: Wenn ihr dieses Rezept ausprobiert und den Mousse an ein Familienessen oder eine WG-Party mitbringt, verliert zunächst bloss keine Worte über die geheime Zutat (i.e. Kichererbsen-Wasser), denn sonst wird womöglich der feine Gaumen (oder lediglich der Placebo-Effekt) allen den Genuss vermiesen. Deshalb erst am Schluss das Rätsel auflösen. Tipp 3: Wer das Mousse gerne mit was anderem als Schokolade versuchen möchte: Do it! Und dann bitte eure Rezept-Variationen bei der Kommentarspalte hier unten oder unterhalb des Facebook-Posts hinschreiben. Tipp 4 (ist zwar gar kein Tipp, sondern gehört eher in die Kategorie "Fragen, die das Leben schreiben", aber egal...): Wer zur Hölle kam auf die Idee, Kichererbsenwasser steif zu schlagen? Tipp 5 (ebenfalls kein Tipp): So ein Kichererbsen-Leben muss wohl auch recht langweilig sein: Nach der Ernte werden die Wasserratten unter ihnen zwar in ein dampfendes Salzbad geführt (einige sogar in einem Glas, so dass man noch ein bisschen was von der Welt mitkriegt; im Gegensatz zu den armen Konservenkichererbsen...), aber von Erlebnisbad kann trotzdem keine Rede sein. Es sei denn man empfindet Dichtestress als Erlebnis.
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Vor zwei Wochen versuchte ich aufzuzeigen, wieso wir in unserer Handlungsfreiheit nicht so frei sind, wie wir häufig meinen (und gerne wären). Beim Aufzählen dieses Katalogs vermeintlicher „persönlicher Entscheide“ wird wohl auch ersichtlich geworden sein, wie viele unserer Handlungen aus einer ethischen Perspektive häufig leider bedenklich sind. Da wir nun also plötzlich viele Minenfelder vor uns sehen, wo vorher noch keine waren, kann unser Verhalten dadurch massiv eingeschränkt werden, was zu einer Art kurzfristigen Paralyse des Handelns führen kann - zumindest wenn wir die negativen Konsequenzen unserer Entscheidungen wirklich ernst nehmen. Da wir jedoch meistens nicht selber die Explosion der Mine spüren, auf welche wir versehentlich (oder bewusst) treten, werden einige Personen, welche jetzt nicht gerade vor Empathiefähigkeit strotzen, kaum ihr Verhalten ändern. Ausserdem kann aus dieser Erkenntnis auch eine fatalistische Haltung resultieren – ganz im Sinne von: „Egal, wie ich handle, ich werde sowieso Leid verursachen!“ So kann beispielsweise das Planen eines freien Wochenendes zur Herkules-Aufgabe (mit teils absurden Abwägungen) werden: Städtetrip im Ausland? Aber das Fliegen weist eine schlechte Ökobilanz auf. Und mit dem Zug dauert es länger und ist zu teuer (oder korrekter forumliert: Flugreisen sind viel zu billig). Dann halt einfach in die nächst-grössere Stadt durch die Einkaufsstrassen flanieren. Kaufrausch im Kleiderladen? Heikel, da Kinderarbeit und miserable Arbeitsedingungen für Menschen in Bangladesch und Co. Also doch lieber bloss etwas trinken gehen. Kaffee? Auch nicht unproblematisch, die Kakaoproduktion in Südamerika... Dann halt eine Cola? Grosses, unsympathisches Unternehmen mit Getränkemarktmonopol und hohem Energieverschleiss (Flaschenproduktion, Kühlung, Transport etc.). Nun, dann halt direkt zum Essen übergehen. Besuch im Steakhouse? Führt zu Tierleid, Ressourcenverschleiss, ökologischen Katastrophen und zerstört Lebensräume von zahlreichen Lebewesen. Vielleicht also doch lieber zum vegetarischen Thai-Restaurant. Ananas-Curry mit Kokosmilch? Schlechte CO2-Bilanz aufgrund langer Transportwege der Zutaten. Okay, heute halt Fasten und Abendprogramm Zuhause. Die neuste Netflix-Serie schauen? Braucht Strom und Energie (Internetverbindung, Datenübertragung, technische Geräte usw.); ausserdem häufig Diebstahl und fehlende kulturelle Wertschätzung durch illegalen Download. Buch lesen? Papierverschleiss. E-Book? Strom. Gut, dann halt direkt ins Bett (wo schon die mit Tierleid gefüllte Daunendecke wartet)! In einem solchen fiktiven, aber realistischen Szenario wünschte man sich womöglich, es gäbe einfach einen „Reset Button“, also einen Knopf wie bei alten Videospiel-Konsolen, mit welchem man das ganze Spiel neu starten kann. Dann könnten wir erstens mal einfach innehalten und mit unserem "Nichtstun" vorübergehend weder zerstören, verletzen noch töten; und zweitens wäre es dadurch vielleicht möglich, gewisse Prozesse in der Vergangenheit zu ändern und zukünftige problematische Verhaltensweisen zu umgehen. Schliesslich handelt es sich bei vielen dieser ethisch fragwürdigen Handlungen um schlicht unhinterfragte Gewohnheiten, welche tief in unserer Gesellschaft verankert sind. Nun gibt es diesen Knopf in der tatsächlich existierenden Welt leider nicht (zumindest habe ich ihn noch nicht gefunden); aber viel spannender als die effektive Existenz eines solchen Knopfes ist doch die Frage: In welchem Abschnitt des „Spiels“ würden wir starten wollen (also ab welchem Zeitpunkt hat der „Spiel“verlauf eine schlechte Entwicklung genommen)? Oder anders gefragt: In welcher Welt wollen wir eigentlich leben? Für die Entstehung einer gerechteren, leidfreieren Welt scheint diese Frage unabdingbar und dennoch stellen wir sie uns viel zu selten. Meistens nehmen wir die Dinge einfach so hin wie sie sind und versuchen entweder unser Verhalten irgendwie rechtzufertigen (diesbezüglich sind wir übrigens äusserst begabt) oder höchstens minimale „Schönheitskorrekturen“ an den problematischeren Bedingungen zu verändern. Wenn also beispielsweise H&M eine „Conscious Line“ entwirft und eine geringe Anzahl Textilien neu zur Hälfte aus Bio-Baumwolle auf den Markt bringt, dann handelt es sich bei diesem wenig relevanten, kosmetischen Eingriff wohl kaum um eine altruistische, effektiv leidvermindernde Handlung, sondern eher um „Greenwashing“, also um blosse Marketingstrategie (damit die Bevölkerung mit scheinbar gutem Gewissen weitere Shopping-Exzesse erleben kann). Ebenso wenn man den Tieren in Pelzfarmen statt einer Fläche von knapp zwei A3-Seiten nun neuerdings die doppelte Grundfläche bei Käfigen zur Verfügung stellt. Das ändert nichts daran, dass zum Beispiel Amerikanische Nerze grundsätzlich Einzelgänger sind, mit einem Territorium von bis zu 800 Hektaren (= 8 Quadratkilometer!) und auch gerne mal schwimmen gehen und dabei bis zu sechs Metern tief tauchen können. Stattdessen müsste man sich also kritisch fragen, wie ein gesamthaft nachhaltiges Konzept in Sachen Textilindustrie aussehen könnte/müsste: Neben fairen Löhnen, funktionierenden Gewerkschaften in Drittweltländern, höheren Textilpreisen, weniger Kaufanreize für „Binge-Shopping“, ökologischeren Materialien und weniger Verwendung von Chemikalien bei der Produktion, müsste man natürlich auch Überlegungen zu Recycling (mehr Second-Hand) und Upcycling (mehr Modeartikel aus rezyklierter Baumwolle) anstellen. Beim Thema Pelz wäre die Sache eigentlich etwas einfacher; immerhin kann kaum jemand tatsächlich hinter der schrecklichen Praxis von Pelzfarmen stehen, welche ja über drei Viertel des weltweit gehandelten Pelzes ausmachen. Ein Verbot solcher Farmen wäre wohl also nicht nur im Interesse der gefangenen Tiere, sondern auch in unserem eigenen, moralischen Interesse. Und da auch die Fallenjagd (z.B. bei Kojoten) ziemlich wüste Szenen verursacht und der Anteil an durch das Jagdgewehr – zumindest in der Theorie – rasch erlegten Tiere sehr gering ist, könnte man sich überlegen, ob ein generelles Pelzverbot womöglich nicht sogar das erstrebenswerte (und eigentlich nicht unrealistische) Ziel für eine ethischere Welt wäre. Solche Gedankenspiele kann und soll (!) man übrigens auch machen, wenn man mit seinen Handlungen noch Leid unterstützt. Denn eine einsichtige, reflektierte Person, die Echtpelz trägt, wird wohl auch zugeben müssen, dass eine Pelzfarm-freie Welt eine bessere Welt wäre und dass man Pelz trotz des Wissens über die katastrophalen Zustände im Bereich der Tierhaltung überhaupt nur kauft, weil es halt einfach verfügbar und möglich ist (und man selbst nicht im Käfig sitzt). Genauso verhält es sich mit anderen Problemen in der Welt: Massentierhaltung? Kann eigentlich niemand wirklich unterstützen wollen, wenn er/sie nicht gerade an sein Mittagessen denkt. Billig(st)e Flugpreise aufgrund von fehlender Kerosinbesteuerung und Subventionierung? Dürfte eigentlich auch nicht sein, wenn man nicht gerade seine nächsten Ferien plant. In solchen Visionen für eine bessere Welt müsste man natürlich auch Kompromisse eingehen können, da ja häufig erst durch unsere Verhaltensänderung einen positive Konsequenz zugunsten der Unterdrückten und Leidgeplagten daraus resultiert. Glücklicherweise gibt es in vielen Bereichen ethische(re) Alternativen, welche grundsätzlich relativ rasch erkannt (und auch umgesetzt) werden können. Um beim oben-genannten Wochenendausflug zu bleiben: Mit dem Zug ein lokales Ziel anvisieren statt ferne Destination mit dem Flugzeug? Absolut! Kleine Fair-Fashion/Öko-Boutique statt Shopping-Center Kaufrausch? Sicher doch! Alpenkräutertee statt Milchkaffee? Macht Sinn! Gemüse-Kokos-Curry statt 250 Gramm Rumpsteak? Keine Frage! Buch statt E-Reader? Beides ungefähr gleich öko (und vernachlässigbar)! Synthetische Materialien in Bettdecke statt Daunen? Definitiv! Das Hinterfragen seiner Handlungen darf also mitnichten zu einer fatalistischen Haltung führen, da es ja durchaus ethische Abstufungen gibt. Natürlich kann man bei jeder Handlungsalternative nach noch so kleinen Nachteilen suchen, aber das ändert nichts daran, dass gewisse („persönliche“) Entscheidungen massiv mehr Schaden anrichten als andere. Und es ändert auch nichts daran, dass wir uns vermehrt an solchen Verhaltensweisen orientieren sollten, welche aus einer utilitaristischen Sicht am wenigsten Schaden anrichten. Wie bedrohlich die Minenfelder unserer Entscheidungen also auch scheinen mögen: Gewisse Minen sind lediglich Attrappen oder harmlose Knallkörper. Die wirklich gefährlichen Minen unserer Zeit kann man hingegen mit dem richtigen Metalldetektor (respektive mit der Fähigkeit, sein Handeln selbstkritisch auf ethische, ökologische und soziale Auswkirkungen zu prüfen) rasch entlarven und relativ einfach umgehen; sodass bedrohliche Minenfelder bald wieder zu lebendigen Blumenwiesen werden. PS: Es gibt zwar keinen Reset Button, um Vergangenes zu ändern oder alte Spielstände zu laden, aber immerhin besitzen wir die Fähigkeit, einen inneren „Pause-Knopf“ zu drücken, um kurz – oder vielleicht auch etwas länger – zu überlegen, was unsere nächsten Spielzüge sind und in welche Richtung sich unsere Gesellschaft eigentlich bewegen soll.
Eines der grösseren und problematischeren Missverständnisse unserer Zeit ist die häufig vertretene These, dass die Mehrzahl unserer Handlungen und Entscheidungen - besonders im Bereich des Konsums - rein persönlicher Natur sind. Zugegebenermassen wäre es recht schön, wenn dem wirklich so wäre; denn dann müssten wir uns massiv weniger Gedanken über unser Handeln und die Auswirkungen auf unsere (Um)Welt machen. Aber genauso wie beispielsweise eine Mauer langfristig keine Probleme lösen wird (egal, ob man sie jetzt an der Grenze zu Mexiko oder entlang der Flüchtlingsrouten irgendwo in Europa errichtet), so ist leider auch der Sachverhalt bei anderen Entscheidungen meist verzwickter, da viele unserer Handlungen in ein komplexes, globales Geflecht von Korrelationen eingebettet sind. Trotzdem wird diese These noch sehr häufig proklamiert, ohne offenbar gross hinterfragt zu werden. Dies ist mir kürzlich mal wieder bei einer Online-Diskussion aufgefallen, bei welcher man abstimmen konnte, ob Veganismus „Super“ oder „Schwachsinn“ sei (nicht zum ersten Mal hat es der „Blick“ geschafft, zwei Gruppierungen mit seiner kaum wertneutralen Sprache gegeneinander aufzuhetzen und damit negative Ressentiments innerhalb der Gesellschaft zu fördern, herzliche Gratulation!). Aber auch bereits bei den zahlreichen Pelz-Diskussionen im letzten Winter kam das Argument des „persönlichen Entscheids“ regelmässig hervorgeschossen – häufig in Verbindung mit der Forderung zu mehr Toleranz hinsichtlich solcher individueller Entscheidungen. Nun liegt eigentlich schon hier der erste Denkfehler begraben. Denn es muss und darf nicht alles toleriert werden. Endlose Toleranz ist mitnichten ein erstrebenswertes Ziel, sondern kulminiert lediglich in Indifferenz; also einer Gleichgültigkeit, die einfach alles zulässt, egal wie fragwürdig oder verwerflich eine Handlung sein möge. Dass wir es beispielsweise nicht tolerieren sollten, wenn jemand sein Kind auf offener Strasse verprügelt, damit scheinen die meisten MitbürgerInnen wohl einverstanden zu sein. Immerhin tangiert dieser persönliche Entscheid des Vaters oder der Mutter ja das physische und psychische Wohlbefinden des Kindes. Ebenso würden mir wohl fast alle zustimmen, dass ich meine Katzen nicht in einem gläsernen Terrarium im Wohnzimmer oder in einer kleinen Holzkiste auf dem Balkon halten dürfte. Würde dies bekannt werden, gäbe es in meinem sozialen Umfeld wohl einen ziemlich grossen Aufschrei – und das ist ja auch gut so. Wenn sich jedoch jemand dafür entscheidet, einen Pelz-Kragen zu tragen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit (ca. 85%) von einem Tier stammt, welches es noch um ein Vielfaches elender hatte als die Katzen in meiner fiktiven Situation (Gitterkäfige so gross wie knapp zwei A3-Blätter, wenig Schutz vor Kälte und Wind, Futtertrog praktisch neben Fäkalien etc.), dann muss doch dieser (Kauf)Entscheid auch irgendwie hinterfragt, kritisiert und womöglich gar verhindert werden. Wieso wir die beiden sehr ähnlichen Fälle gefühlstechnisch dennoch unterschiedlich wahrnehmen, hat in erster Linie wohl damit zu tun, dass das entsprechende Tierleid der Pelzkapuze im Verborgenen liegt respektive durch zahlreiche Zwischenschritte kaschiert wird, so dass man beim Beobachten des Endprodukts die Qualen der Nerze, Polarfüchse, Marderhunde oder Kojoten schon wieder vergessen hat. Beim Fleischkonsum genau das Gleiche: Wir haben das Gefühl, dass der Entscheid, „was“ man isst, ein sehr subjektiver und persönlicher ist, da man ja bloss ein eingepacktes Stück „Nahrung“ kauft und nicht ein totes Rind, welches nach knapp 20 Monaten (umgerechnet entspräche das übrigens einem Kind in der ersten Klasse, wenn man die Lebenserwartung einer Kuh mit einberechnet) geschlachtet wurde. Das Verschleiern der unbequemen Wahrheit und die damit entstehende gefühlsmässige Abstrahierung erleichtert uns so den Entscheid eine Handlung zu vollführen, welche wir zumindest nicht mit einer solchen Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit unterstützen würden, wären wir bei allen Stationen im Leben (und Sterben) dieses nicht-menschlichen Lebewesens sowie dabei gewesen. Natürlich gibt es noch zahlreiche weitere Beispiele von scheinbar persönlichen Entscheiden wie der Kauf von Dosenbach-Schuhen für knapp 30 Franken, bei welchen wir uns die beschwerlichen und mit Leid verbundenen Produktionsprozesse häufig auch nicht vorstellen können oder wollen. Oder das exzessive Reiseverhalten (siehe Beitrag „Flugentzug“), welches uns mittel- und langfristig grosse ökologische und gesellschaftliche Probleme bereiten wird. Nun mag sich die eine oder andere Person (zu Recht!) fragen, wo man denn die Grenzen ziehen möge zwischen Entscheidungen, deren Reichweite beschränkt und annehmbar sind, und solchen Handlungen, die durch negative Auswirkungen diskutiert, eingeschränkt oder gar verboten werden sollten. Die zugegebenermassen vage Antwort auf diese Frage müsste wohl auf folgender Überlegung basieren: Wie fest tangiert meine Entscheidung, mein Verhalten die Freiheit oder das Wohlbefinden anderer Personen oder Lebewesen? Wenn wir diese Fragestellung auf gewisse Sachverhalte anwenden, dann sollten wir feststellen, dass beispielsweise der oben-beschriebene Fleischkonsum in der Regel hinsichtlich ethischer, ökologischer sowie ökonomischer Punkten höchst fragwürdig ist (siehe aufgeführte Argumente beim „Blick“-Beitrag zum Thema „Veganismus“). Hingegen ist der Entscheid, sich die Haare anders zu schneiden eine durch und durch persönliche Entscheidung, welche maximal den Freund oder die Freundin irritieren könnte. Ebenso ist es (aus ethischer Sicht) praktisch irrelevant, ob jemand lieber bunte Kleider in Batik-Optik oder einen „All black“-Style mag (im Gegensatz zum Kauf eines Fairtrade/Bio-Shirts anstelle eines Primark-Billigprodukts); ob jemand lieber Eishockey, Tennis oder Fussball schaut (oder weder noch); ob jemand bevorzugt im Berner Oberland oder im Wallis Skifahren geht (solange man als Walliser nicht gerade nach Kitzbühl fährt); ob jemand abends lieber ein Buch liest, mit Freunden in eine Bar geht, das Fasnachtstreiben verfolgt oder doch eher an seinem Blogbeitrag feilt; ob jemand eher den Nordischen Typ II oder den Dunklen Hauttyp V bevorzugt (oder die ganze Klassifizierung der Hauttypen gemäss Fitzpatrick komplett unnötig findet); oder ob jemand lieber mit einer Frau oder einem Mann (oder beidem) den Beischlaf vollziehen möchte (allerdings handelt es sich bei solchen Neigungen ja nicht um bewusste Entscheide, die man irgendwie steuern könnte; aber ich wollte trotzdem mal wieder mit einem Pro-LGBT-Votum abschliessen). Wie man leicht sehen kann, gibt es also Tausende von Entscheidungen, die tatsächlich ganz und gar „persönlicher Natur“ sind und weder ethisch, ökologisch noch sonst wie bedenklich wären. Hier müssen wir Meinungsverschiedenheiten aushalten und respektieren können. Gleichzeitig gibt es aber eben auch viele Handlungen (besonders im Bereich des Konsumverhaltens), welche unhinterfragt ausgeführt werden, obschon sie die Handlungsfreiheit anderer (nicht-)menschlicher Lebewesen teilweise massiv beschränken oder deren Lebensqualität drastisch verringern, und daher aus utilitaristischer Sicht eigentlich kaum tragbar sind. Dass es nicht einfach sein wird und einiger Geduld bedarf, solche Verhaltensweisen zu ändern, liegt auf der Hand. Dass es dabei zu vielen (teilweise hitzigen) Diskussionen kommen wird, wie im oben-erwähnten „Blick“-Artikel, ebenso. Aber vielleicht müssen wir auch einfach lernen, kritikfähiger zu werden und selbstkritischer zu denken, so dass wir mit etwas Übung immer müheloser abwägen können, inwiefern unser Handeln Probleme und Leid verursacht; damit die Sache mit dem persönlichen Entscheid nicht bloss ein ziemlich abstruser Mythos bleibt. Dieser Text ist übrigens der veganen Community in Stuttgart gewidmet, welche mit grossem Engagement und noch grösserer Leidenschaft beim "Blick"-Artikel mitkommentiert hat. ;-)
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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