Eigentlich wollte ich ja über das neuliche Missgeschick der SRK-Präsidentin und der „Saisonküche“-Redaktion schreiben, aber manchmal drängen sich Themen so vehement auf, dass man sie kaum ignorieren kann.
Die Frage stellt sich dann bloss, was schreibt man über eine solche Tragödie? Dass meine Freundin und ich vor ein paar Wochen selber in Paris waren und nach einem sehr leckeren Abendessen im Restaurant Soya und einem Schlummertrunk in der Bar Ave Maria praktisch am Bataclan vorbeigelaufen sind und uns über die friedliche, multikulturelle Stimmung im 11. Arrondissement gefreut haben? Soll ich so darauf aufmerksam machen, dass es irgendjemanden hätte treffen können; jemanden aus dem Umfeld des Lesers, der Leserin, womöglich aus dem Freundeskreis oder der Familie, oder gar er oder sie selbst; um so im grenzüberschreitenden Sinne von „Nous sommes tous la France“ nicht nur Anteilnahme auszulösen, sondern auch Ängste zu schüren? Oder soll ich mein aufrichtiges Mitgefühl und meine Trauer ausdrücken; denn wer bei einer solchen zumindest für europäische Verhältnisse nicht alltäglichen Katastrophe nicht mit Bestürzung reagiert, kann ja kein intaktes, empathisches Bewusstsein besitzen? Oder soll ich eben gerade darauf hinweisen, dass diese Todeszahlen für nicht-europäischen Verhältnisse nicht sehr spektakulär sind; dass Boko Haram in Nigeria allein letztes Jahr schätzungsweise 7700 Leute umgebracht hat; dass in diesem Jahr bis Ende Oktober bereits ungefähr 3500 Flüchtlinge auf ihrer beschwerlichen Reise über das Mittelmeer ertrunken sind? Oder soll ich mit dem Spaten oder der Heugabel in der Hand (für mehr reicht's leider nicht als dienstuntauglicher, nicht in den USA wohnhafter Bürger) nach Vergeltung schreien und dazu aufrufen, die Islamisierung in Europa zu stoppen; denn wer könnte sonst hinter so einem grausamen Attentat stecken, als diese verfluchten Extremisten (höchstens noch die verdammten Flüchtlinge, die sich hier ausbreiten und unseren Frauen und Töchtern an die Miniröcke wollen)? Obwohl ich mit (fast) all diesen Überlegungen sympathisiere, möchte ich darüber schreiben, dass das Gebet in „#PrayForParis“ wohl eine erdenklich dumme Antwort auf dieses Attentat ist. Denn ist es nicht gerade die Religion in ihrer fundamentalistischen Auslegung, die zu solchen Tragödien führt? Auch wenn ich natürlich die Anteilnahme hinter dem Gebet uneingeschränkt teile, ist doch die Form dieser Solidaritätsbekundung so falsch wie der Vergleich des Flüchtlingsstroms mit einer Lawine. Solange es Menschen gibt, die das Gefühl haben, ihre Religion sei die einzig richtige und ihr Gott der einzig wahre; solange man Religionsfreiheit postuliert, aber gleichwohl andere Religionen unterdrückt (bspw. Minarettverbot, aber dominantes, viertelstündliches Glockengeläut; obwohl dies ja, wie an einer anderen Stelle bereits erwähnt, eigentlich nichts mit Religion zu tun hat...); solange man nicht die geografische und zeitliche Willkür hinter der Bestimmung resp. Wahl der Religion sieht – solange wird es auch Kriege oder Anschläge geben. Und natürlich müssen wir jetzt alle einstehen für unsere Werte, die wir beschwerlich über Jahrhunderte hinweg geformt und gebildet haben. Wir alle müssen uns dafür einsetzen und jeglicher Form von Extremismus die Stirn bieten – sei dies die Abgrenzung gemässigter, muslimischer Bürger vom Terrorregime der IS und seiner Splittergruppen; sei dies die Verhinderung einer Rückbesinnung auf ein fundamentalistisches Christentum oder ein erzkonservativer Katholizismus, deren Gewaltanwendung in der Geschichte der Menschheit (und nicht bloss im Alten Testament) ähnlich schrecklich war wie jene des islamischen Terrors heute; sei dies die Eindämmung eines weiteren Rechtsrutsches, der möglicherweise dafür sorgt, dass wir Grenzen schliessen, uns komplett abschotten und globale Menschenrechte annullieren; sei dies die Herbeiführung einer Debatte über unsere Rolle in Ländern mit einer grossen Anzahl Terroristen, aber auch potenziell gefährdeten Ländern (denn Armut, Missstände sowie [westliche] Ausbeutung sind meistens der Nährboden für Terrorismus, nicht ein grundsätzliches Verlangen, den Westen zu erobern oder dessen Werte zu zerstören) und unsere Rolle im globalen Treiben generell; oder sei dies die Bekämpfung der Paranoia und Angst, überall von Anschlägen Opfer werden zu können. Denn das einheitliche Einstehen für Freiheit, Demokratie, den Glauben an das Gute im Menschen, eine säkularisierte Welt, in welcher es keine fundamentalistischen Religionen gibt (und [k]einen Gott für alle Menschen), dafür ein friedliches Nebeneinander jeglicher Hautfarben oder Herkünfte, ist viel stärker als jeder Terroranschlag. Deshalb werden meine Freundin und ich auch wieder mal nach Paris gehen und im Restaurant Soya, mit seiner stimmungsvollen Industrieatmosphäre, wunderbare vegane Gerichte speisen; anschliessend in der skurrilen, psychedelischen Bar Ave Maria einen exotischen Cocktail zwischen Figuren von Vishnu, Ganesha oder der Jungfrau Maria schlürfen; und uns beim abschliessenden Spaziergang über die friedliche, multikulturelle Stimmung im 11. Arrondissement freuen.
4 Comments
Eile mit Weile
17/11/2015 01:19:06 pm
Lieber Saoi
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Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier die Religion als ursächlich für solche Anschläge anführen würde. Mir scheint dass die historisch einfach als Vehikel genutzt wurde, um militärische (heute eher ökonomische) Unterdrückung zu rechtfertigen. Nach allem was ich im Moment weiss waren die Kreuzzüge eher ein lustiges Brandschatzen mit pseudo-humanitärem Anstricht ("One god! Her mit den Frauen.")
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Lieber Blog-Freund
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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