Nun ist’s also doch noch nach hinten losgegangen. War ja eigentlich klar, dass es nicht immer gut ausgehen kann, aber im 21. Jahrhundert haben wir uns alle zu echten Profis im Verdrängen gemausert. Dabei würde es reichen, wenn man nur schon mal die Fussball-EM beobachtet: Ein Zehntel aller Tore der Vorrunde wurde in der Nachspielzeit erzielt. Viel zu viel in einer äusserst kurzen Zeitspanne von durchschnittlich drei Minuten.
Doch das mit dem Hoffen auf eine Wendung hin zum Guten auf den allerletzten Drücker kann nicht immer funktionieren. Bei Volksabstimmungen wie der Durchsetzungs- oder „Heiratsstrafe“-Initiative hat’s gerade noch einmal geklappt. Ebenso bei der Bundespräsidentschaftswahl in Österreich. Dass eine realistische Chance bestand, dass Grossbritannien tatsächlich den Weg der Scheidung mit der EU wählen würde, hat im Vorfeld (zu) viele BürgerInnen in Grossbritannien kalt gelassen. Und nun hat’s eben doch noch gescheppert. Wobei natürlich die effektive Tragweite der Entscheidung – quasi der Tsunami nach dem Erdbeben – noch unklar ist. Und dieser politische Sturm könnte sich über mehrere Jahre hinweg ziehen. Wie alle knappen Entscheidungen offenbart auch dieses Resultat eine tiefe Spaltung innerhalb der Bevölkerung. Zum Einen einen altersspezifischen Graben (60 Prozent der unter 25-Jährigen stimmten für den Verbleib in der EU, während die Altersgruppe über 65 mit ebendieser Prozentzahl den Brexit befürworteten), andererseits auch eine Abweichung im Abstimmungsverhalten hinsichtlich des Bildungsabschlusses (je höher der Abschluss, desto eher entschied man sich für den „Bremain“) und schliesslich auch eine regionale Spaltung (mit dem urbanen London als pro-europäisches Epizentrum Englands). Interessant ist diesbezüglich auch das ebenso vom Endresultat abweichende Abstimmungsverhalten in Nordirland und Schottland. Besonders in Schottland öffnet dieses Resultat plötzlich wieder die eigentlich erst kürzlich verworfene Unabhängigkeitsdebatte. Gemäss jüngsten Umfragen würden aktuell ungefähr 60 Prozent der schottischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit Schottlands stimmen (was durchaus Sinn ergibt, da Schottland mit etwas über 60 Prozent für den Verbleib in der EU abgestimmt hat). Dies ist natürlich insofern ironisch, als England mit dem Austritt aus der EU ja ebenfalls nach mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit strebte. Nun hat sich also womöglich eine Art Büchse der Pandora geöffnet, so dass die Idee von einem geeinten Grossbritannien plötzlich auch auf dem Spiel steht. Ganz im Sinne von: Be careful what you wish for. Ein weiterer Grund neben dem Streben nach vermeintlicher Unabhängigkeit könnte auch die Freude am destruktiven Verhalten gewesen sein. Denn niemand konnte und kann mit Sicherheit sagen, welche Auswirkungen dieses Resultat effektiv auf England (und im weiteren Sinne auf die EU und weitere Staaten) haben würde oder wird. Dieser eigentlich rebellische Entscheid für das Unvorhersehbare und die Überraschung birgt natürlich eine gewisse Faszination. Aus diesem Grund ist auch Trump immer noch hoch im Kurs: Viele WählerInnen sind unzufrieden und wählen deshalb bewusst Anti-Establishment und entscheiden sich damit gegen ein klares politisches Drehbuch. Ein solches liegt nämlich weder beim Brexit noch bei der Wundertüte Trump vor. Dass man seinen politischen Verdruss in Form eines womöglich bewusst irrationalen Abstimmungsverhalten nicht unbedingt bei so wichtigen Angelegenheiten wie dem Verbleib in der EU oder der Wahl des Präsidenten zeigen sollte, scheint logisch (offensichtlich jedoch nicht gleichermassen für alle). Deshalb ist es wichtig, dass wir uns einige Gedanken für kommende Wahlen machen sollten: Erstens müssen wir der Tatsache in's Auge blicken, dass mehr SeniorInnen als je zuvor in unserer Gesellschaft leben, was die Angelegenheit zeitgemäss abzustimmen etwas erschwert (auch wenn es dies dadurch natürlich nicht zwingend verunmöglicht). Man könnte sich deshalb durchaus überlegen, ob es eine Art Altersbeschränkung nicht auch im hohen Alter geben sollte; immerhin betreffen die politischen Entscheide die – sagen wir mal – über 75-Jährigen viel weniger, als es die U-18-Generationen betrifft, welche dann den Mist irgendwie ausbaden müssen. Vielleicht aber noch wichtiger ist der Diskurs zwischen den Generationen (sowie natürlich ebenso zwischen der tendenziell eher konservativ eingestellten ländlichen Bevölkerung und jenen eher progressiveren Werte der urbaneren Zentren); denn viele ältere Leute scheinen schlicht keine Ahnung zu haben, weshalb man sich beispielsweise gegen Heteronormativität oder Karnismus auflehnt. Deshalb müssen wir fähig (und mutig) sein, auf unseren Standpunkt zu beharren, wenn wir dafür auch gute Argumente haben - denn Weisheit hat nicht zwingend mit Alter zu tun. Zweitens müssen wir unser Bildungssystem mittelfristig so anpassen, dass das Auswendiglernen von Matheformeln oder historischen Jahreszahlen nicht das Kernstück des Unterrichts ist, sondern dass es mehr Platz für politische, kulturelle und philosophische Bildung hat – und zwar bereits in der Oberstufe, so dass nicht bloss eine Handvoll kluger oder lernwilliger Jugendlichen an Mittelschulen dieses Privileg zugute kommt, sondern dass alle davon profitieren und später hoffentlich fähig sind, Argumente abzuwägen und dementsprechend rational zu handeln. Gut möglich, dass wir auch am Wahlsystem etwas ändern müssen, so dass ganz klar ersichtlich wird, was die Konsequenzen des Handelns sein werden (z.B. „Wollen Sie wirklich einen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten wählen, der sich offen als Sexisten und Rassisten gibt und sich kaum um den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge schert?“), wie dies nachträglich von einigen Brexit-Befürwortern ins Feld geführt worden ist. Am allerwichtigsten ist jedoch, dass wir diese Meta-Diskussionen über Abstimmungen und Wahlen öffentlich führen, damit man auch erkennt, dass die direkte Demokratie eben auch Probleme mit sich bringt und Brände auslösen kann, die unter anderem sehr schwer zu kontrollieren sind. Denn wer mit dem Feuer spielt, muss auch wissen, wie man es wieder löschen kann.
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