Vor einiger Zeit fand eine Art Paradigmenwechsel in meinem persönlichen Aktivismus statt. Was genau der Auslöser gewesen war, kann ich nicht abschliessend sagen; wohl auch deshalb, weil viele Faktoren dazu geführt haben. Aber am besten starten wir einfach mal am Anfang... Wie die meisten Leute, die irgendwann mal beschliessen, sich aktiv für eine gute Sache einzusetzen, begann auch ich mit meinem eigenen Verhalten. Durch Inputs von diversen externen Quellen (Zeitungsartikel, Überlegungen von Mitmenschen oder eigenen, kritischen Gedanken) wurde ich dazu „genötigt“ mein Handeln zu hinterfragen und rechtzufertigen: - Wie häufig darf ich fliegen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben? - Was rechtfertigt das Töten von anderen Lebewesen für etwas Gaumenfreude? - Was passiert eigentlich mit dem Geld, das ich auf der Bank deponiert habe? - Wieviel Konsum brauche ich, um glücklich zu sein? - Und wie billig darf ein T-Shirt sein? Fragen wie diese führten dazu, dass ich sukzessive mein Verhalten meinen neuen – oder bereits vorhanden, aber bisher missachteten – Idealen anpasste. Natürlich bin ich mir bewusst, dass diese Anpassung nicht einfach ist (war sie ja bei mir auch nicht, sondern ein hart-geführter, innerer Kampf gegen meine Faulheit und Ignoranz), aber wenn wir ehrlich sind, ist dieser Weg die einzige wirklich vernünftige und empathische Art auf diese kognitive Dissonanz zu reagieren. Als ich dann recht zufrieden mit meinem persönlichen Verhalten war – kleiner Hinweis am Rande: Das Streben nach einem ethischeren Leben ist freilich nie komplett abgeschlossen, auch wenn man erwähnen sollte, dass man [als effektiver Altruist] irgendwann einen Punkt erreichen wird, an dem die zusätzlichen Mühen nur noch kleinere positive Veränderungen mit sich bringen und man sich auch mal ausruhen darf ;-) –, war es an der Zeit, meine Mitmenschen auch aufzufordern, sich Gedanken zu den unterschiedlichen Problemen der Welt zu machen. Denn: Damit man diese grösseren Aufgaben auch wirklich lösen kann, braucht es natürlich mehr als eine einzelne Person, die ihr Verhalten anpasst. Aus diesem Grund kann man eben auch nicht von "Missionieren" sprechen, wenn es um Aktivismus geht; schliesslich handelt es sich bei den meisten moralphilosophisch-relevanten Handlungen keineswegs um "persönliche Entscheidungen". Eine flächendeckende und strategische Zusammenarbeit ist also unabdingbar, um jene lokalen oder globalen Probleme zu lösen. In dieser Phase des „Leute Aktivierens“ befand ich mich nun in den letzten Jahren, weshalb ich mich immer häufiger als (Freelance) Aktivist identifizierte. Und stets hatte ich klare, konkrete Ziele vor den Augen: Weniger Verletzung von Menschenrechten in Textilfabriken oder Kupferminen, weniger Ausstoss von CO2, weniger Verbrauch von nicht-rezyklierbaren Produkten, weniger fliegen, weniger Autofahren, weniger graue Energie, weniger Diskriminierung von Minderheiten, weniger Ausbeutung von „Nutz“tieren etc. pp. So passierte es manchmal, dass ich die Mitmenschen um mich herum vergass. Mit der Zeit lernte ich deshalb, jede Person individuell abzuholen und zu schauen, wo denn eine Verhaltensänderung oder eine altruistische Aktivierung auch wirklich möglich wäre. (Nochmals: Diese Verhaltensanpassung sind absolut notwendig, weil aus utilitaristischer Sicht das aus unserem problematischen Verhalten resultierte Leiden [oder Sterben] massiv grösser ist, als eine kleine Umstellung unseres [Konsum]Verhaltens.) Auch dieser Schritt fand bei mir bereits vor einiger Zeit statt. Vergessen hatte ich aber immer noch eine Gruppe: Meine Mitaktivist*innen. Problematisch ist dies vor allem deshalb, weil dies nicht nur mir selbst passiert(e), sondern auch grösseren Umweltorganisationen, politischen Gruppierungen, sozialen Institutionen oder sonstigen NGOs. Das heisst konkret: Im Kampf für eine bessere Welt gehen viele Aktivist*innen drauf, weil sie sich einer grösseren Sache opfern – und diese Form des Märtyrertums ist eben nur bedingt nachhaltig. Und Nachhaltigkeit ist eben wichtig, wenn wir zum Ziel haben, eine Zivilgesellschaft zu etablieren, in welcher es zwar immer noch ausserordentlich aktive Menschen gibt, aber grundsätzlich jede einzelne Person ein bisschen aktivistisch unterwegs ist. Um diesem Aktivismus- oder Gutmensch-Burnout entgegenzuwirken, brauchen wir erstens mal die Fähigkeit eines ausgeprägten Selbst-Monitorings. Das heisst, wir sollten sensibel und reflektiert genug sein, uns immer zu vergewissern, wo wir gerade stehen und wie viel Energie und Zeit wir in die – etwas plakativ formuliert – Weltverbesserung investieren können. (Dieser Punkt betrifft jetzt in erster Linie alle bereits besonders aktiven Mitmenschen und nicht die breite Masse, welche zuerst noch erkennen muss, dass es neben Freizeit und Arbeit eben auch noch ehrenamtliches Engagement gibt.) Zweitens müssen wir diese Sensibilität auch auf unsere Mitstreiter*innen richten und ihnen nicht das Gefühl geben, dass sie nicht genügen, wenn sie beispielsweise mal Rückfälle (i.e. vorübergehend unvegane Phase; ausserordentliche Flugreise; exotische Frucht im Einkaufskorb; Kauf einer billigen Fast-Fashion-Hose etc.) oder Zweifel haben. Denn wir sind ebenso verantwortlich, uns um die Community selbst zu kümmern. Und da sind wir beim wichtigen Stichwort: Im Gegensatz zu früher sind wir meiner Meinung nach in Industriestaaten nicht mehr so stark auf Communities angewiesen. Früher war es in einem Dorf unabdingbar, sich zu vernetzen und gemeinsame Sache zu machen. Heute braucht man jedoch selbst in ländlichen Bereichen nicht unbedingt seine Nachbarn zu kennen, da wir grundsätzlich in einem funktionierenden Staatssystem mit hohem Wohlstand leben. Wie wäre es also, wenn wir – statt lokale Kommunen zu gründen – uns zu einer Art „aktivistischen Grossfamilie“ zusammenschliessen, in welcher grundsätzlich mal alle willkommen sind, auch wenn diese Personen womöglich noch meilenweit davon entfernt sind, ihr Verhalten so anzupassen, dass daraus möglichst wenig Leid resultiert? Anders formuliert – und jetzt kommen wir langsam zum Titel des Beitrags (sorry für den langen Bogen ;-)) – könnte man sagen: Vielleicht müssten wir einfach etwas netter sein. „Nett“ mag zwar ein ziemlich harmloses und nicht sonderlich positives oder zumindest aussagekräftiges Wort sein (im Sinne von: „Das war nett...“), aber man kann auch mit kleinen Gesten nett sein. So habe ich beispielsweise angefangen, Mitmenschen – egal ob Aktivist*innen oder nicht – kleine Überraschungen in den Briefkasten zu legen. Das kann eine selber-gemachte Konfitüre sein, vegane Güetzi, ein aufbauender Brief, ein nettes Kompliment auf einer Postkarte oder eine ganze Lunchbox (siehe Coverbild). Letzteres habe ich mal gemacht, weil eine eigentlich politisch aktive Kollegin und alleinerziehende Mutter vorübergehend wenig Zeit zum Kochen fand. Also habe ich kurzerhand einen persönlichen SaoiAebi-Lieferdienst gestartet und die Person mit einem pflanzlichen Mittagsmenü überrascht. Es gäbe natürlich noch Hunderte andere Arten, wie man Mitmenschen eine Freude machen könnte und gleichzeitig dem Image vom verbissenen, verzichtenden Weltretter entgegenwirken könnte: - Statt eine ermüdende Grundsatz-Diskussion über den Fleischkonsum zu führen, könnte man die Person einfach mal zum Abendessen einladen. - Statt die Vielflieger*innen zu ermahnen, könnte man mal einen gemeinsamen Tagesausflug oder einen mit dem Zug erreichbaren Städtetrip in den Ferien planen. - Statt über die Probleme in der Textilindustrie zu diskutieren, einfach mal gemeinsam in einen Fair Fashion Store gehen und zehn Prozent des gekauften Artikels als Sponsoring übernehmen. - Oder eben einfach mal einen veganen Kuchen für alle auf die Arbeit bringen, einen geselligen Spieleabend planen, den Menschen und ihren Problemen zuhören, aufrichtige Komplimente verteilen etc. pp. Dieser Verhalten hätte einerseits zum Vorteil, dass die diversen aktivistischen Gruppierungen weniger exklusiv und ausschliessend wirkten (was den Gap zwischen unterschiedlichen Ideologien verringern würde) und andererseits würden wir durch einen fürsorglichen, offenen, positiven und empathischen Umgang miteinander mehr Menschen für unsere wichtigen Anliegen gewinnen. Dass wir dann letztendlich einen Zuwachs an aktiven Menschen aufgrund der Arbeit auf der Beziehungsebene und der Zugehörigkeit zu einer Community (ich weiss, das ist ja dann auch schon wieder etwas exklusiv...) verzeichnen und nicht wegen einer Überzeugung durch Fakten, ist ja grundsätzlich irrelevant – zumindest solange wir dann Moralvorstellungen und Meinungen erklären und aufzeigen, dass es sich dabei eben nicht um eine willkürliche Ideologie handelt, sondern um einen notwendigen, gesellschaftlichen Fortschritt. Natürlich brauchen wir einen effektiven und extensiven Aktivismus, um die zahlreichen Probleme auf unserem Planeten in den Griff zu kriegen – besonders weil sich viele dieser Probleme gerade am Zuspitzen oder Verschlimmern sind und deshalb akute Handlungsnot besteht. Dennoch schadet es wohl nicht, sich manchmal von den grossen Problemen zu verabschieden und einfach mal wieder im kleinen Rahmen nett zu sein – und zwar nicht nur an Weihnachten. Fröhliche, möglichst leidfreie Weihnachten und einen guten, möglichst Feinstaub-freien Rutsch! :-) #BeNice
0 Comments
Leave a Reply. |
SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
Februar 2023 Oktober 2022 Mai 2022 März 2022 Dezember 2021 Oktober 2021 August 2021 Juni 2021 Mai 2021 März 2021 Februar 2021 Januar 2021 November 2020 Oktober 2020 September 2020 August 2020 Juli 2020 Juni 2020 Mai 2020 April 2020 März 2020 Februar 2020 Januar 2020 Dezember 2019 November 2019 Oktober 2019 |