Wann warst du das letzte Mal ungeduldig?
Und weshalb? Beim Warten auf den Zug? Auf eine verabredete Person? Auf die neue Staffel einer Serie? Ich muss sagen, ich bin ein ziemlich ungeduldiger Mensch; vermutlich auch weil ich meistens genau weiss, wann, wie und weshalb ich eine Sache möchte und dann fühlt sich das Warten darauf irgendwie ineffizient an (auch wenn das Gefühl vermutlich eher auf einen kindlichen Trieb zurückzuführen ist und weniger auf eine rationale Überlegung zu Produktivitätssteigerung und Effizienz). Die Ungeduld ist nicht per se ein Problem. Wenn man dadurch tätig wird und aktiv eine Veränderung anstreben möchte, kann sie auch ein wichtiger Antrieb im eigenen Verhalten sein. Dennoch: Es gibt einen Grund, wieso die Ungeduld in der Liste der Laster aufgeführt wird und nicht in jener der Tugenden. Wie viel Schaden die möglichst rasche Erfüllung der Wünsche tatsächlich verursacht, ist zwar häufig nicht so recht ersichtlich, aber ein fahler Nachgeschmack bleibt (bei mir) jedenfalls trotzdem, wenn ich daran denke, wie sehr die Ungeduld in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat. Ein Beispiel gefällig? Als ich in Berlin war, stiess ich in einer U-Bahn-Station auf ein riesiges Plakat, das eine ziemlich mutige Ansage machte: Dein Einkauf wird bequem nach Hause geliefert – und zwar in 15 Minuten. Wie soll so etwas möglich sein? Klar, je nach Aufbau des Lagers und der logistischen Technologie kann man vermutlich sehr rasch einen Einkaufszettel via Fliessbänder in den Einkaufskorb bringen. Doch selbst nach der Zusammenstellung der Produkte, welche vielleicht trotzdem wenige Minuten benötigt, kommt ja noch die effektive Auslieferungszeit dazu, welche in einem grossen, urbanen Gebiet wie Berlin ja auch viel Zeit kostet. (Man denke nur mal daran, wie lange es geht, um mit der U-Bahn vom Prenzlauer Berg nach Neukölln zu fahren…) Mittlerweile ist das Konzept vom möglichst bequemen und vor allem schnellen Einkaufen auch in der Schweiz angekommen: In Basel sind seit mehreren Wochen fast identische Werbeplakate zu sehen (siehe Blogpost-Foto): "Wir liefern deine Lebensmittel innert 15 Minuten." Die Frage stellt sich nun also: Wo entsteht denn eigentlich der Schaden bei einer solchen ultraschnellen Auslieferung? Was ist der Preis von «schnell»? Als ich vor gut einem Jahr den Blogpost «Der Preis von Billig» veröffentlicht hatte, waren die Probleme offensichtlich: Kostensenkung resultiert leider meistens in menschlicher, tierischer oder ökologischer Ausbeutung. Beim Marker «Geschwindigkeit» ist jedoch eine mögliche negative Folge weniger gut ersichtlich. Gleichwohl finden wir auch in diesem Bereich andere Beispiele mit Schattenseiten: Auf der Autobahn kann beispielsweise eine Temporeduktion aus ökologischer Sicht durchaus Sinn machen. Je schneller man mit dem Auto über den Asphalt brettert, desto höher ist der Energieverbrauch. Auch bei der Waschmaschine gilt die Formel «Je schneller, desto klimabelastender»: Wer seine Wäsche im Kurzwaschprogramm wäscht, verbraucht mehr Energie. Ob dieses Problem auch auf die 15-Minuten-Lieferung zutrifft, kann ich nicht abschliessend beurteilen, weil man nur wenig über Auslieferungsart, Lebensmittellagerung, Arbeitsbedingungen (Zeitdruck der Arbeitnehmer*innen) usw. von solchen Anbietern erfährt. Mein Hauptproblem ist jedoch ein anderes und eher philosophischer Natur. Und da wären wir wieder bei der in der Einleitung angesprochenen Ungeduld. Ich bin der (subjektiven) Meinung, dass die möglichst rasche Erfüllung von Bedürfnissen und Wünschen aus soziologischer Sicht problematisch ist. Wir haben in den letzten Jahrzehnten immer mehr verlernt, auf etwas zu warten und diese Wartezeit auch auszuhalten. Der Zug hat drei Minuten Verspätung? Aufregen oder halt nochmals aufs Smartphone glotzen. Die neue Netflix-Staffel kommt erst nächstes Jahr? Dann halt was anderes bingewatchen. Der Spielfilm hat eine ereignisarme Szene? Ein paar Minuten nach vorne skippen oder in der Zwischenzeit Social Media checken, bis wieder Action abgeht. Die Liebe des Lebens ist gerade nicht präsent? Auf Tinder rasch durch Tausende Profile swipen… Dass die Zeitspanne zwischen Bedürfnis und deren Befriedigung immer stärker reduziert wurde, ist allerdings nicht nur auf unsere Ungeduld zurückzuführen, sondern einerseits logischerweise auch eine Folge von effizienterer Technologie, aber andererseits eben auch eine bewusste Entscheidung von (kapitalistischen) Unternehmen, die uns so als Konsument*innen noch besser konditionieren können. Letztendlich werden wir durch diese Entwicklung nämlich wieder stärker zu Kindern, die sich nicht gedulden wollen und jetzt sofort ihre neuen (überteuerten) Sneakers brauchen (vielleicht sind diese eine paar Wochen später schon wieder nicht mehr «in» und dann erhält der Instapost nur noch halb so viele Likes). Wir machen uns also auch angreifbar, wenn wir uns konditionieren lassen wie ein Haustier und dadurch das Aushalten und Kontrollieren unserer Bedürfnisse nicht mehr trainieren – oder je nachdem gar nie erlernen (ich denke mitfühlend an die kommenden Generationen). Was diese gesellschaftliche Tendenz letztendlich auch bedeutet: Wir müssen vermehrt auf entschleunigende Tätigkeiten wie Meditation oder Achtsamkeitstraining zurückgreifen, um dem hohen Tempo des 21. Jahrhunderts etwas entgegenhalten zu können. Dass dies die Ursachen nicht wirklich bekämpft, sondern bloss einem Schmerzmittel für den Knochenbruch gleichkommt, liegt auf der Hand. Triebverzicht sei die Wiege der Kultur, meinte einst Sigmund Freud, der freilich auch viel Fragwürdiges von sich gegeben hatte. Und dennoch: Ohne die Zeit des Wartens und vielleicht sogar der Langeweile hätten wir heute viel Künstlerisches, Kulturelles oder Philosophisches nicht. Reflektieren und entscheiden braucht Zeit – auch was den Konsum anbelangt. Letztendlich geht es aber auch noch um etwas Anderes: Ist ein Spaziergang durch die Gemüseabteilung oder entlang der immer grösser werdenden Fleischersatz-Theke nicht auch eine Art synästhetisches Erlebnis? Kann das Abfüllen der Müesli-Mischung in ein mitgebrachtes Einmachglas im Unverpackt-Laden nicht auch ein lustvoller, entspannender Moment sein? Und verpassen wir durch die 15-Minuten-Express-Auslieferung nicht die vielleicht schönste aller Freuden, die Vorfreude?
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