Vor langer Zeit führte ich mal ein Gespräch, in welchem der prägnante Begriff «Faszination des Ekels» fiel. An das konkrete Gesprächsthema kann ich mich leider nicht mehr erinnern; lediglich der Begriff blieb in meinem Gedächtnis haften wie ein frischer Kaugummi zwischen Schuhsole und Fussboden. Nun, kein anderer Begriff könnte vermutlich diesen Blogpost besser beschreiben als jener aus diesem vergangenen Diskurs. Nichtsdestotrotz bevorzugte ich einen etwas ästhetischeren, künstlerischeren Titel für meinen heutigen Text. Klar, beim Lesen des endgültigen Titels denkt man vermutlich eher an ein spätromantisches Märchen; vielleicht an ein Mädchen mit hübschem Haar, das in einer Kammer für eine böse Prinzessin an einem antiken Gerät schuften muss – bis dass sie eines Tages von einem noblen Prinzen gerettet werden möge… Da ich aber nicht in veraltete, stereotype Rollenbilder verfallen möchte und ausserdem schon mehrere Märchen geschrieben habe, geht es in diesem Post nicht um ein Märchen. Freilich könnte man im entferntesten Sinne allerdings schon sagen, dass sich der Text um ein (oder eher: zahlreiche) Mädchen und ein «Gerät» dreht, welches schon mehrere Jahrhunderte alt ist. Aber starten wir von Anfang an... Es war einmal ein Lehrer, der war frustriert über die Mobilität des Klaviers, auf welchem er jeweils seine Finger tanzen liess. Eines Tages bemerkte er dann den Grund, wieso sich das Instrument so schlecht verschieben liess. Nein, es lag nicht bloss am beachtlichen Gewicht des Flügels [Anm. ca. 366 kg]; sondern vielmehr an seinen Rädern. Nicht an den Rädern selbst, aber an dem, was sich dort verflochten hatte: Haare. Sehr viele Haare. Die Entdeckung erfüllte mich zuerst mit Graus (Haare können zwar durchaus ästhetisch sein, aber nicht ein Büschel eingeklemmter Haare), bevor ich mich dann plötzlich der Faszination hergab: Diese Haare mussten dort schon seit unendlich langer Zeit eingekeilt liegen. Denn ich unterrichte an diesem Ort seit gut zehn Jahren und ich bin mir ziemlich sicher, dass weder ich noch das Reinigungspersonal sich mal die Mühe gemacht hätte, die Räder davon zu befreien. Da dieser begrenzte Zwischenraum bei den Flügelrädern ausserdem wenig Platz hatte, musste die Mehrheit der Haare schon sehr lange dort verheddert liegen. Aus welchem Jahr wohl das älteste Haar stammte, welches sich an einem der insgesamt neun Rädern des Flügels festgehalten hatte? Was war aus dieser Person geworden? Ist sie mittlerweile aus dem Dorf ausgezogen? Vielleicht sogar aus der Schweiz? Wie steht es um deren Alter? Ist sie womöglich sogar älter als ich? Sind es nur Mädchenhaare oder befinden sich in dem Haarbüschel auch welche von Jungs, auch wenn deren Haare in der Regel vermutlich kürzer sind und sich dadurch weniger um die Räder herum wickeln würden? Auf einmal wurde mir bewusst, wie viel implizite Geschichte an den Flügelrädern hing. So viele Anekdoten von unterschiedlichen Menschen. Und das alles ganz versteckt und kaum wahrgenommen von den Menschen, die täglich ein und aus gehen im Musikzimmer. Und ich fragte mich plötzlich: Darf ich überhaupt diese Relikte aus der Vergangenheit mit einer Schere zerteilen und sie dann in den Mülleimer werfen? Die Antwort auf diese halbwegs rhetorische Frage ist natürlich «Ja, man darf» (vielleicht sogar «Ja, man soll»). Das ist dann letztendlich auch das, was ich gemacht habe (im Coverfoto sieht man übrigens den Vergleich zwischen vorher [rechts] und nachher [links]). Gleichwohl fand ich den Gedanken faszinierend, wie viel Erinnerungen und Geschichten sich hinter alltäglichen Dingen verbergen – auch wenn es sich dabei nur um einen Strich an der Wand, eine Kerbe auf dem Parkett oder einen Flecken an der Decke* handelt. Dem Flügel war dies freilich egal. Er freute sich über seine wiedererlangte Mobilität aufgrund der von mir initiierten Pediküre. In dem Sinne bleibt mir doch nichts anderes übrig als zu schreiben: Und wenn sie nicht entfernt worden wären, dann hingen sie dort noch heute. *Apropos Flecken an der Decke: An der Decke des Musikzimmers - immerhin vermutlich 5 Meter hoch - ist tatsächlich ein roter Fleck zu sehen, der verdächtig an Tomate erinnert. Bereits bei einem meiner ersten Besuche des Zimmers fiel mir dieser auf. Wer wohl dafür verantwortlich war? Was war seine Absicht? War es vielleicht ein Junge, der eifersüchtig auf die lange Haarpracht der Mädchen war, da diese sich an den Flügelrädern verewigen konnten? Auch diese Fragen werden vermutlich nie beantwortet werden...
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Es gibt Dinge, über die spricht man eher ungerne.
Eines dieser Tabuthemen ist der Tod. Egal, ob es um Hungertote in Entwicklungsländer geht, um geschredderte Küken in der Eierindustrie oder einfach den natürlichen Tod von älteren Mitmenschen – die meisten Personen versuchen diesen unangenehmen Gedanken aus dem Weg zu gehen. Nun mag diese Tatsache vermutlich die wenigsten Leser*innen erstaunen. Viel spannender ist deshalb folgende Überlegung in Zusammenhang mit dem Tod: Wie soll eigentlich die eigene Beerdigung mal aussehen? Als ich vor einigen Jahren mal an einer Beerdigung war, hatte ich genau diesen leicht makaberen Gedanken und kam zum Schluss, dass, wenn ich mal das Zeitliche segnen sollte, ich auf die klassische Zeremonie in der Kirche verzichten möchte. Klar, ich kriege das ganze Prozedere dann sowieso nicht mehr mit und man könnte allerhand pietätslose Dinge mit mir anstellen; mir würde es sowas von egal sein… Gleichwohl ist die Vorstellung absurd, dass eine wildfremde Person – dazu noch ein Pfarrer – versuchen sollte, mein Leben für alle Anwesenden zusammenzufassen (wie dies eben bei der letzten Beerdigung der Fall war, an welcher ich zugegen war). Wenn schon jemand eine Rede halten sollte, dann bitte diejenigen, die viel Zeit mit mir verbracht haben! Ein weiterer Grund, der gegen (m)eine Abdankung in der Kirche spricht, ist, dass ich seit meiner Geburt eigentlich nie freiwillig in einer Kirche war – mal abgesehen von ein paar Besuchen in ausländischen Kirchen als Tourist: Weder bei der Taufe (wurde ich überhaupt getauft?), noch während der «kirchlichen Unterweisung» und der anschliessenden Konfirmation (mir ging es vor allem um die Geschenke und das Geld… #Jugendsünde #Beichte) habe ich das Gotteshaus aus freien Stücken betreten. Später gab’s dann zwar noch Beerdigungen und vielleicht sogar mal vereinzelt eine Hochzeit, wo mein kirchlicher Besuch allerdings auch höchstens extrinsisch motiviert war. Versteht mich nicht falsch: Kirchen waren Jahrtausende lang zentrale Orte des gesellschaftlichen Treibens und sind heute noch häufig faszinierende architektonische Meisterleistungen aus einer vergangenen Zeit. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die Wichtigkeit solcher Gebäude respektive der Institution Kirche generell am Schwinden ist (obwohl diese Entwicklung in Zeiten von Klimakrise, Pandemie etc. teilweise gebremst wird; Glaube ist immer ein verlockendes Refugium in einer Welt voller Sinnlosigkeit und Schmerz). Aber zurück zu meiner fiktiven Beerdigung: Nein, ich möchte in einem anderen Rahmen verabschiedet werden. Nicht in der Kirche. Irgendwo anders… Wie wäre es zum Beispiel mit einer alternativen Cocktail-Bar als Abdankungsort? Naja, auch wenn vielleicht der eine oder andere Gast seine Trauer im Alkohol ertränken möchte, käme die Idee wohl insgesamt nicht so gut an bei meinen Mitmenschen (aber vermutlich immer noch besser als eine Leichenschau in einem veganen Restaurant). Dann halt in der Natur? Wäre doch sicher noch stimmungsvoll und ein schönes Symbol für unsere ursprüngliche Herkunft, bevor wir sie durch Digitalisierung, Urbanisierung und Co. teilweise vergessen haben… Aber ja, das Ganze wäre dann vielelicht auch ein bisschen zu ordinär und durchschaubar für meinen Geschmack. Ausserdem bliebe immer noch die Frage im Raum stehen, wo genau in der Natur ich denn eigentlich die Abdankung haben möchte; man kann ja wohl nicht einfach einen Ort wie die Engstligenalp im Berner Oberland reservieren (von der beschwerlichen Anreise für alle Besucher*innen brauchen wir gar nicht erst zu sprechen). Vielleicht ein Ausstellungsraum für wechselnde, zeitgenössische Kunst? Ich bin zwar nicht (mehr) ein regelmässiger Museumsgänger, aber hey, Kunst geht immer! Andererseits hat eine ähnliche Aktion sicher schon irgendein*e crazy Künstler*in bereits gemacht und dann wäre das Ganze nur ein lahmer Abklatsch einer längst umgesetzten Idee. Also dann vielleicht in einem Sitzungsraum einer NGO? Ich habe allerdings nicht diese EINE Organisation, mit der ich mich komplett verbunden fühle; vermutlich weil ich in meinem Leben schon auf zu vielen Hochzeiten (nicht wortwörtlich!) getanzt habe. Wie dem auch sei: Über das «wo», also die genaue Location, können ja dann Familie, Friends usw. demokratisch abstimmen. Wichtiger ist nämlich das «wie» – und dazu kam mir eines Nachts eine Idee... Und zwar könnte man einen neutralen Raum mieten und ihn mit Matten und Matratzen auslegen (ich würde das auch mit meinem Erbe quersubventionieren ;)). Vielleicht würde sich auch eine kleine Turnhalle eignen, da dies nicht nur aufgrund des Inventars praktisch wäre, sondern auch eine Art «Circle of Life» darstellen würde; immerhin ist die Turnhalle ein Ort der Kindheit, wo ich als Fussball-vernarrter Jugendlicher viel Zeit verbracht hatte; sowie ein Ort der Bildung, was ja auch in meinen Erwachsenenjahren stets ein zentraler Pfeiler meines Lebens sein sollte (also mehr die Aula als die Turnhalle, aber sei’s drum). Anyway, sobald dieser Raum gemütlich und bequem eingerichtet ist [-> Auftrag für Esteban], so dass man dort Lust kriegt, etwas länger zu verweilen; soll mein alter iPod (wenn er denn dann noch unter uns weilen sollte… ansonsten tut es notfalls auch mein MacBook – obwohl dieses wohl weniger beseelt ist als ein archaischer, klobiger iPod aus vergangenen Zeiten) über eine qualitativ hochwertige Soundanlage [-> Auftrag für Fabian] abgespielt werden. Und zwar nicht einfach ein paar Lieblingslieder. Nein. Die ganze Ladung. Also alle 4732 Songs (Stand: Ende 2021). Wenn man nun bedenkt, dass die Durchschnittslänge dieser Songs bei ungefähr 4 Minuten liegt (in den aktuellen Charts ist diese übrigens bereits auf unter 3 Minuten gesunken [was wohl auf den Qualitätsverlust und die Schnelllebigkeit der heutigen Musik hinweist]; bei mir finden sich jedoch auch einige Werke, die deutlich über 10 Minuten gehen), dann kommt man auf eine Gesamtspielzeit von ungefähr 18'928 Minuten, was wiederum knapp 315 Stunden entspricht. Das wären fast zwei Wochen nonstop Musik. Meine Beerdigung würde also zu einer Art zweiwöchigen Musik-'Festival' mutieren. Ganz ernsthaft: Klingt so ein Abdankungsrave nicht verlockender als eine kirchliche Zeremonie in einem kalten Gebetssaal? Nun gibt es aber noch einen kleinen Twist, was die Anordnung der Songs anbelangt. Denn: Wie das Leben auch manchmal seltsame Wege geht und sich teilweise nur bedingt beeinflussen lässt, möchte auch ich dem Prinzip des Zufalls Rechnung tragen – immerhin will ich ja nicht jeden Aspekt meiner Beerdigung wie ein Kontrollfreak durchplanen. (Schreibt der Typ, der gerade seine eigene Beerdigung prophylaktisch und minutiös ausarbeitet... ;)) Deshalb soll mein iPod via «Random»- resp. «Shuffle»-Mode abgespielt werden. Es kann also sein, dass die Zeremonie dann mit einem Stück eröffnet wird, dass mir eigentlich nur bedingt am Herzen liegt – womöglich sogar mit einem fürchterlich dissonanten Werk, das die Hörer*innenschaft verstören wird. Vermutlich folgt danach ein komplett anderer Musikstil, der mit dem Stück davor radikal bricht; vielleicht ein andächtigeres Werk. Vielleicht auch nicht. Jedes Musikstück mutiert zu einer kollektiven Überraschung. Es kann jedoch auch sein, dass diese willkürliche Abfolge von Musikstücken in unseren Köpfen dann letztendlich eben doch irgendwie Sinn ergibt: Auf die unangenehme Anspannung folgt die süsse Auflösung. Die (Zufalls)Musik als Metapher für das Leben selbst. (Da wären wir übrigens wieder bei unserem Wunsch nach Bedeutung, nach einem Sinn in der Sinnlosigkeit). Das Ziel wäre übrigens nicht, dass man dann zwei Wochen in diesem Raum verbringt, sondern eher kommt und geht, wie es einem gerade passt. Das bedingt allerdings auch, dass diese (Turn)Halle 24/7 zugänglich sein müsste (wieder ein weiteres Problem für die Nachwelt). Den Gedanken, dass man keinen Plan hat, ob gleich eine komplexe Jazz-Komposition abgespielt wird, ein orchestrales Werk aus der «Final Fantasy»-Reihe oder eine ruhige Piano-Ballade, die ich vielleicht sogar selber komponiert habe, finde ich irgendwie schön und magisch, in gewisser Weise auch etwas tröstend. Und was mir an diesem Gedankenexperiment auch gefällt: Jeder Abschied ist individuell. Dass «ich» (ich existiere ja nur noch durch meine Musik-Playlist) wohl die meiste Zeit «alleine» wäre (ich gehe nicht davon aus, dass zu jeder Uhrzeit jemand bei meinem künstlerischen Beerdigungs-Happening am Musik hören wäre), ist für mich auch völlig in Ordnung. Ist ja irgendwie im Leben auch so: Wir sind letztendlich einsame, umherwandelnde Gedankenwesen in einem endlichen Körper. Und ausserdem würde mein postmortaler Geist – sollte er denn existieren (was ich bezweifle) – ja sowieso nie «alleine» sein. Denn die Musik begleitet mich ja permanent. So wie sie es im Leben auch stets gemacht hat. Die vermutlich treuste Begleiterin, die ich je hatte… Ob die Umsetzung dieser Idee dann auch tatsächlich so reibungslos verlaufen würde, wie ich sie mir hier vorstelle, sei jetzt mal dahingestellt… Aber hey, das wird dann nicht mehr mein Problem sein. Hauptsache ich habe mir jetzt schon mal (unnötig) viele Gedanken gemacht, was vielleicht so in etwa fünfundvierzig Jahren sein könnte. Eines ist jedenfalls sicher: Ich lasse lieber die Musik meine Abdankung sprechen als irgendeine fremde Person in einem schwarzen Kittel. Amen and out. Vor einiger Zeit wurde ich mal im Lehrer*innenzimmer gefragt, ob ich wüsste, wie hoch der ökologische Nutzen wäre, wenn alle Schüler*innen statt zahlreicher Papier-Kopien iPads oder Laptops verwenden würden, also wenn man konsequent auf digitalen Unterricht setzen würde. Mein Gehirn fing sogleich an, sich zu überlegen, wie viel Papier denn ungefähr pro Schuljahr je Fach benötigt wird und woher das Holz, aus welchem das Papier gemacht wurde, denn stammen könnte. Ist es nachhaltig geholzt worden? In der Schweiz? Oder wird dadurch halb-legales Waldroden in osteuropäischen (Ur)Wäldern unterstützt? Wie viel Energie braucht die Produktion von Papier überhaupt? Wie viel der Transport zu uns? Und wie steht es eigentlich um die Herstellung von iPads/Laptops? Wie lange ist deren Lebensdauer? Mit welcher Art von Strom werden die Geräte aufgeladen? Kohle? Atomenergie? Sonne, Wasser, Wind? … Nachdem mir diese Fragen (mitsamt einigen Überlegungen) in kürzester Zeit durch den Kopf geschossen sind, antwortete ich meinem Lehrerkollegen Folgendes: «Ich weiss es nicht.» Es ist ein so einfacher, ehrlicher Satz. Trotzdem wird er seltsamerweise selten ausgesprochen. Wir leben in einer Zeit, in der wir Zugang zu unglaublich viel Wissen besitzen. Ganz viele Antworten warten nur darauf, abgerufen zu werden: Was ist die 10. Stelle nach dem Komma hinter der Kreiszahl Pi? Innert weniger Sekunden finden wir die Antwort (es wäre ‘5’, aber ja… who cares, anyway?!) und können auf der Wikipedia-Seite (jetzt tut nicht so, als ob das nicht auch eure erste Anlaufstelle wäre...) gleich noch etwas über das ‘Basler Problem’ erfahren (nein, es handelt sich dabei nicht um eine Anspielung auf den rechtsextremen Grossrat Eric Weber, sondern um die Frage nach der Summe der reziproken Quadratzahlen… oder so…). Aber nicht nur deshalb erwarten wir von unseren Mitmenschen einen gigantischen Pool an Allgemein- und Fachwissen: Wir leben auch in einer Zeit, in welcher wir einerseits dank Social Media Vieles behaupten können, ohne dass dies von tatsächlichen Expert*innen kontrolliert und verifiziert wurde (die Covid-Impfung führte zum Herzstillstand des dänischen EM2020-Fussballspielers Christian Eriksen… Tatsächlich korrekt? Egal, einfach mal teilen…). Andererseits fördern Facebook usw. auch eine Radikalisierung und Polarisierung der sozialen Gruppen durch «Echo Chambers» respektive «Filter Bubbles». Hätte die USA, die UNO und andere involvierte Länder in Afghanistan bleiben sollen/müssen? Oder gar nicht erst dort auftauchen, auch wenn sich dort soziale Unruhen anbahnten? Ich weiss es nicht… Was früher in der Schulzeit belastend war, kann im Erwachsenenleben nahezu beruhigend sein: Denn während wir früher das Gefühl hatten, die Lehrperson würde eine solche (Nicht)Antwort mit einem fiesen Kommentar bestrafen und die ganze Klasse wüsste ausserdem sicher die richtige Antwort; so wissen wir mittlerweile, dass viele Mitmenschen eigentlich selber keinen Plan haben (oder nur einen halben) und man in einer gespaltenen Gesellschaft mit neutralen Aussagen sowieso wenig Angriffsfläche bietet (mit einer Aussage wie «Es wäre ökologisch von Vorteil, etwas weniger Fleisch aus Massentierhaltung zu essen» eckt heute niemand mehr richtig an). Ausserdem hat das «Ich weiss es nicht» als Jugendliche*r auch viel mit fehlendem Selbstbewusstsein zu tun – immerhin wissen Schüler*innen nach wiederholten Nachfragen oftmals trotzdem die Antwort; manchmal sind sie einfach etwas unsicher. Ein heutiges «Ich weiss es nicht» ist in der Regel eher ein mutiges Bekenntnis zur Begrenztheit des Wissens, also ganz im Sinne von Sokrates bedeutungsschweren Satz «Ich weiss, dass ich nichts weiss». Ist es möglich, in einer langfristigen Beziehung bis ans Lebensende wirklich glücklich zu sein - insbesondere im 21. Jahrhundert als junges Paar? Ich weiss es nicht… Wie soll man denn auch in einer Zeit, in welcher wir global unglaublich vernetzt sind und zwischen hunderttausenden, unterschiedlichen Aktivitäten, Serien, Newsportalen etc. pp. alles wissen können? Die einen kennen alle Plots der aktuellsten Netflix-Serien; die anderen den Marktwert jedes einzelnen PSG-Spielers; einige kennen die essentiellsten Alben und Musiker der Cool-Jazz-Epoche; und wiederum weitere erkennen europäische Vogelarten an ihrem Gesang, In der Schulzeit war immerhin der Unterrichtsstoff limitiert. Als erwachsenes Individuum ist er nahezu unendlich. Was passiert, wenn man im Weltall in ein schwarzes Loch fallen würde? Ich weiss es nicht… Natürlich könnte man jetzt auch noch die philosophische Frage diskutieren, was denn «Wissen» überhaupt bedeutet und ob wir selbst durch Erkenntnisse, welche in klar wissenschaftsbasierten, sorgfältig ausgeführten Metastudien gewonnen wurden (z.B. dass der Klimawandel und die Umweltzerstörung grösstenteils menschengemacht ist), überhaupt etwas über Wissen und «objektive Wahrheit» aussagen können.
Muss aber nicht unbedingt sein. Denn der Zweck dieses Posts war ein anderer: Mut zum Nicht-Wissen. Statt immer irgendwelches Halbwissen weiterzutragen, einfach mal «Ich weiss es nicht» sagen. Im Ernst, probiert es mal aus, wenn ihr das nächste Mal in eine Diskussion gelangt. Ihr werdet sehen, dass die Dynamik eines Gesprächs sich stark verändern wird, sobald man diese magischen Worte ausgesprochen hat, und man sich womöglich dann auch wieder mehr zuhört, anstatt das Gegenüber bloss von seiner eigenen Meinung überzeugen zu wollen. Also vielleicht jedenfalls. Vielleicht auch nicht. Es kann auch sein, dass man dann als unwissender Narr die Debatte verlässt. Ich weiss es nicht… |
SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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