Ich kann mich nicht an eine Zeit erinnern, in welcher du nicht da warst…
Ich weiss nicht einmal, wann ich dich zum ersten Mal gesehen habe, aber es muss sicher Jahre her sein. Seither bist du eine Konstante in meinem Leben, welche frühmorgens immer wieder auftaucht in meiner Routine des Arbeitswegs. Du bist also eine Art Konstante innerhalb einer Konstante. Regelmässig frage ich mich, wenn ich durch die Bahnhofshalle geeilt und an der langen Treppe angelangt bin, ob du wohl noch da sein wirst, ob dich vielleicht jemand heute doch weggeputzt hat… Aber bisher waren meine Sorgen unbegründet – was vermutlich damit zu tun hat, dass du besonders hartnäckig bist und dir ein bisschen Besen-Wischen nichts anhaben kann. Und dennoch ist es irgendwie seltsam, dass du bei der vermutlich täglichen Reinigung der Treppen bisher nicht entdeckt und vernichtet wurdest. Oder hast du einen heimlichen Verehrer im Putzpersonal? Jemand, der dich bewusst am Leben erhält? Wie ein heiliger Gral der Unhygiene? Ein Triumph der Unordnung über der Sterilität des 21. Jahrhunderts? Sowieso: Was bist du eigentlich? Klar, ein Fleck. Aber das ist ja genauso wenig aussagekräftig wie das Kriterium «Mensch»: Erst in der Differenzierung wird es spannend: Man kann ein hedonistischer, egozentrischer Mensch sein, der sich den Konventionen der Gesellschaft beugt und irgendwann stirbt. Oder man kann ein*e Künstler*in sein mit dem Ziel ein möglichst kreatives, schöpfungsreiches Leben zu führen. Bist du ein künstlerischer Fleck? Oder ein Fleck des Zufalls? Bestehst du aus Schokolade (vielleicht ein Schokoladeneis?) oder bist du eher ein Kaffefleck? Oder handelt es sich bei dir eher um die Überreste einer Sauce? Eine dickflüssige Bratensauce nach englischer Art? Oder bist du wohl doch eher eine standardisierte McDonald’s Sauce? Warst du vielleicht ein Bio-Produkt? Und von wo stammen deine ursprünglichen Zutaten? Sind die lokal oder klebt da an der Basler Bahnhofstreppe vielleicht ein Stück südamerikanischer Regenwald? Willst du uns damit etwas Sonne in die dunkle, kalte Bahnhofshalle bringen? Und wie alt bist du überhaupt? Du scheinst nicht mehr so frisch auszusehen; man sieht dir jedenfalls die Spuren des Lebens an: Falten, Furchen und Narben stecken in deiner ausgetrockneten Haut. Ob du dich bewusst langsam auflöst? Als Metapher für die Vergänglichkeit des Lebens? Damit wir uns von dir verabschieden können? Kein hektischer Schnitt im Leben der Pendler*innen, sondern ein sanftes Ausklingen. Fade out. Und vielleicht bist du dann irgendwann so blass, dass man dich nur noch erahnen kann, wenn man bereits von dir Kenntnis hatte… Während unwissende Passant*innen achtlos an dir vorbeiziehen. Aber wer weiss… Vielleicht wird sich trotzdem irgendwer noch an dich erinnern. Zumindest für eine kleine Weile. Dann wirst auch du vergessen sein. Während irgendwo ein neuer Fleck geboren wird…
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SaoiAebiLebenskünstler, Philosoph, Hobbykoch, Balkongärtner, Freelanceaktivist, Lehrer, Katzen- und Tierfreund, Spirituosenliebhaber, Melancholiker, Musiker, Gesellschaftskritiker, Mensch, Lebewesen, Materie. Oder so. Archives
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